Zyklus der Erdenkinder 06 - Ayla und das Lied der Höhlen
gerichtet war. Die Zelandonii vermieden es, offen auf solche Beschäftigungen zu starren. Dabei ging es nicht um Verlegenheit, Intimität war gang und gäbe, und es wurde einfach darüber hinweggesehen. Jondalar war weit gereist und sich bewusst, dass die Gebräuche der Menschen unterschiedlich sein konnten, doch das galt für Ayla ebenso, und er wusste, dass sie schon früher Menschen in intimen Situationen gesehen hatte - sie lebten auf so engem Raum, dass es sich gar nicht vermeiden ließ. Auch beim letztjährigen Sommertreffen musste sie Ähnliches beobachtet haben. Er konnte sich nicht erklären, was ihr Unbehagen bereitete, und wollte sie schon fragen, sah dann aber Levela und Jondecam zurückkommen und beschloss, damit bis später zu warten.
Aylas Unbehagen stammte aus ihren frühen Jahren, als sie beim Clan lebte. Ihr war eingebläut worden, dass man vieles einfach nicht sah, obwohl man es beobachten konnte. Die Steine um jedes Herdfeuer in Bruns Clan waren wie unsichtbare Wände. Man schaute nicht über die Grenzsteine hinweg, blickte nicht in den privaten Bereich des Herdfeuers eines anderen Mannes. Man wandte den Blick ab oder richtete ihn unbeteiligt in die Ferne, nur um den Anschein zu vermeiden, man starre in den von Steinen eingefassten Bereich. In der Regel war man bemüht, nicht einmal unbeabsichtigt zu stieren, denn ein starrer Blick gehörte zur Körpersprache des Clans und hatte eine bestimmte Bedeutung. Der durchdringende Blick des Anführers konnte zum Beispiel ein Verweis sein.
Als Ayla begriff, was sie da gesehen hatte, schaute sie schnell in die andere Richtung und sah Levela und Jondecam näher kommen. Sie war seltsam erleichtert, legte ihre Wangen an die ihren und begrüßte sie liebevoll, als hätte sie die beiden seit längerem nicht gesehen.
»Wir wollen uns die Geschichtenerzähler anschauen«, sagte Levela.
»Ich hatte mich noch nicht entschieden, ob ich mir lieber Geschichten oder Musik anhören möchte«, erwiderte Ayla. »Wenn ihr zu den Geschichtenerzählern geht, komme ich mit.«
»Ich auch«, meinte Jondalar.
Als sie das Podest erreichten, war gerade Pause. Eine Erzählung war beendet worden, und eine neue hatte noch nicht begonnen. Die Leute schlenderten herum, einige gingen, andere trafen ein, wieder andere suchten sich einen neuen Platz. Ayla schaute sich zunächst um. Das niedrige Podest, jetzt zwar leer, bot drei oder vier Darstellern genügend Raum, um sich zu bewegen. Zwei rechteckige Feuergruben waren zu beiden Seiten des Podests ausgehoben worden, um es besser zu beleuchten. Dazwischen und zu beiden Seiten des Feuers waren Baumstämme zu losen Reihen angeordnet, dazu ein paar Steine in angemessener Größe, alle mit Polstern bedeckt. Vor den Baumstämmen gab es einen offenen Bereich, in dem Leute auf dem Boden saßen, viele auf gewobenen Grasmatten oder Häuten.
Einige, die auf einem der vorderen Baumstämme gesessen hatten, erhoben sich und gingen fort. Levela eilte zielstrebig darauf zu und setzte sich auf das weiche Polster. Jondecam nahm neben ihr Platz und hielt weitere Polster für ihre Freunde frei, die unterwegs noch von jemandem aufgehalten worden waren. Während sie noch plaudernd dastanden, trat Galliadal zu ihnen.
»Da bist du ja.« Er beugte sich vor, um Ayla zu begrüßen, berührte ihre Wange mit seiner und verweilte dort, wie Jondalar fand, ein wenig zu lange. Ayla spürte Galliadals warmen Atem am Hals und nahm seinen angenehmen männlichen Geruch wahr, so anderes als der, der ihr am meisten vertraut war. Sie bemerkte auch Jondalars angespannten Kiefer, trotz seines Lächelns.
Andere drängten sich um sie und wollten wohl die Aufmerksamkeit des Geschichtenerzählers erregen, vermutete Ayla. Ihr war aufgefallen, dass sich die Leute gern um Galliadal scharten, vor allem junge Frauen, und einige schauten Ayla erwartungsvoll an, als warteten sie auf etwas. Das gefiel ihr nicht sonderlich.
»Levela und Jondecam halten Plätze für uns frei«, sagte Jondalar. »Wir sollten sie jetzt besetzen.«
Ayla lächelte Jondalar an, und sie gingen zu ihren Freunden, doch als sie dort ankamen, hatten sich schon andere niedergelassen und nahmen einen Teil des Platzes ein, den Levela und Jondecam freigehalten hatten. Sie rückten alle zusammen und warteten.
Nach einer Weile, in der noch weitere Zuschauer eingetroffen waren, betraten Galliadal und einige andere das niedrige Podest. Sie warteten, bis die Zuhörer sie bemerkt hatten. Als die Gespräche verstummten und alles
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