0011 - Das Todesschloß
Gladys gewichen. Die Nachttischlampe flammte auf.
Zamorra konnte das Gesicht des Mannes jetzt erkennen. Für immer prägte es sich in sein Gedächtnis ein.
Er konnte das Gesicht nur einen Sekundenbruchteil lang sehen, denn der Mann riß die Arme schützend davor, als das Licht gleißend in das Dunkel brach.
Die einäugige Gestalt rannte blind auf Zamorra zu, hin zum Fenster. Ein wuchtiger Schlag sollte den Professor treffen, doch der duckte sich ab, unterlief den Gegner und ging wieder hoch, als er dessen Gewicht über sich spürte.
Ebenezer Gloombstone schoß fast waagerecht aus dem Fenster.
Gestreckt wie ein Brett flog er auf die Wasserfläche zu.
Zamorra sah, wie der Körper im Wasser aufschlug und versank.
Wenig später tauchte ein Kopf auf, er bewegte sich auf das Ufer zu.
Die Gestalt zu verfolgen, hätte keinen Zweck gehabt. Die Dunkelheit der Uferböschung verschluckte sie.
Zamorra wandte sich um.
Erst jetzt begann Gladys zu schreien.
***
Zamorra war mit zwei Schritten bei ihr. »Ruhig«, sagte er, »die Gefahr ist vorbei.«
Das Schreien des Mädchens brach ab. Ein trockenes Schluchzen entrang sich Gladys’ Kehle.
Zamorra setzte sich zu ihr aufs Bett, nachdem er die Tür wieder geschlossen hatte.
Niemand kam. Es war offensichtlich keiner geweckt worden. Vielleicht hatte auch der schwere Wein vom Abend dazu beigetragen, daß alle weiterschliefen.
Professor Zamorra streichelte dem Mädchen über das Haar, bis das Zucken der Schultern schwächer wurde und schließlich ganz aufhörte. Gladys hatte sich zumindest so weit beruhigt, daß man wieder mit ihr sprechen konnte.
»Warum haben Sie das Fenster offen gelassen?« fragte Zamorra sanft.
Sie schaute ihn aus feuchten Augen an. »Habe ich doch gar nicht!«
Professor Zamorra stand wieder auf und ging zum Fenster hinüber. Er besah sich den Verschluß und nickte unmerklich.
Der Riegel war geschmolzen. Erkaltete Metalltropfen glänzten auf dem Holz des Fensterbrettes.
Er sagte nichts, als er zu dem Mädchen zurückging.
Gladys schaute ihn fragend an.
»Es wurde aufgedrückt«, sagte Zamorra. »Sie sollten morgen nicht hier schlafen.«
»Sie glauben, er kommt wieder?«
Unverhohlene Angst stand in Gladys’ hübschem Gesicht.
»Ich fürchte, ja. Können Sie mir sagen, was vorgefallen ist, bevor ich ins Zimmer kam?«
»Nicht viel. Ich wachte auf, und dieser Mann stand vor mir. Sein Auge leuchtete so gräßlich. Ich habe auf gar nichts anderes geachtet.«
»Was sagte er?«
»Ich habe nicht aufgepaßt. Alles ist wie ein schrecklicher Traum gewesen. Ich weiß nur noch, daß er mich mit Griselda angesprochen hat. Und daß ich bald ihm gehören würde. Oh, es war so schrecklich!«
Das Mädchen schlug die Hände vors Gesicht.
»Was war noch?« bohrte Zamorra weiter.
»Plötzlich dachte ich, ich wäre nicht mehr ich selbst.«
»Sie täuschen sich«, meinte Zamorra gegen sein besseres Wissen.
»Das Gefühl hat nichts zu sagen. Das war die Aufregung. Können Sie mir sonst noch etwas sagen?«
»Nein. Es ist alles viel zu schnell gegangen. Ich war kaum wach, als Sie schon hereinkamen. Ich muß mich noch bei Ihnen bedanken.«
»Das müssen Sie nicht. Sie müssen jetzt schlafen.«
»Und Sie denken, ich könnte wirklich schlafen?«
»Ich werde Ihnen eine Tablette bringen. Oder wenn Sie wollen, hypnotisiere ich Sie auch.«
»Hypnotisieren? Können Sie das denn?«
»Natürlich.« Professor Zamorra lächelte milde. »Es ist nichts dabei. Sie werden dann ruhig und friedlich schlafen.«
Gladys dachte nach.
»Ich habe Angst«, sagte sie unvermittelt.
»Auch Ihre Angst wird vergehen. Es sind ein paar Dinge passiert, die auch ich nicht voll erklären kann. Vermutlich werden wir auch keine natürliche Erklärung dafür finden. Sie müssen sich damit abfinden, daß wir hier mit okkulten Dingen konfrontiert werden, denen mit Lexikonwissen nicht beizukommen ist. Aber Sie sollten trotzdem keine Angst haben. Ich weiß, das ist viel verlangt. Aber alles weist darauf hin, daß der Spuk morgen nacht vorbei ist. Sie werden Ihren Winston heiraten, und wenn das erste Baby unterwegs ist, haben Sie diesen Spuk längst vergessen.«
»Was wissen Sie darüber, Professor Zamorra?«
»Ich bin auch nur auf Vermutungen angewiesen.«
»Erzählen Sie.«
»Es hängt aller Voraussicht nach mit der Vergangenheit Ihrer und der Familie der Gloombstones zusammen. Sie ähneln Griselda, und Sie wissen aus Ihrer Familiengeschichte, daß Griselda getötet wurde. Ein Täter
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