005 - Die Melodie des Todes
diese Befürchtung hatten. Ich habe mich damit beruhigt - es tut wirklich nichts zur Sache, auf welche Weise -, daß Sie die größere Verantwortung für diese gute Partie tragen als ich.«
Er war ein ganz andrer Mensch geworden; trotz ihrer Wut konnte Frau Cathcart das feststellen: Er offenbarte neue Geistes-und Charakterseiten, Entschlossenheit und - was ihr ganz besonders auffiel - aus seinen Augen glänzte ein ihr fremder und furchtbarer Wille, der seinem Gesicht einen Ausdruck fast rücksichtsloser Härte verlieh.
»Ihre Tochter heiratete mich unter irrtümlichen Voraussetzungen. Sie hat Ihnen alles berichtet, was ich Ihnen zu sagen hatte - fast alles«, verbesserte er sich, »und ich war auf Ihren Besuch gefaßt. Wären Sie nicht gekommen, so hätte ich Sie darum gebeten. Ihre Tochter ist völlig frei, soweit ich in Betracht komme. Ich nehme an, Ihre Weltgewandtheit erstreckt sich auch auf die Kenntnis des Gesetzbuches? Sie kann morgen eine Ehescheidung beantragen und wird sie wohl ohne Schwierigkeit und ohne viel Aufhebens in der Öffentlichkeit durchsetzen.«
Ein Hoffnungsschimmer leuchtete in dem Gesicht der Frau auf.
»Daran habe ich noch gar nicht gedacht«, sagte sie halb für sich. Kurz entschlossen wandte sie sich schnell an ihre Tochter. »Pack deine Sachen zusammen und komm mit mir!«
Edith rührte sich nicht. Sie stand auf der andern Seite des Tisches, warf einen Blick auf ihren Gatten und schaute dann ihrer Mutter ins Gesicht.
»Du hörst, was Herr Standerton sagt«, fuhr Frau Cathcart gereizt fort. »Er hat dir einen Weg gewiesen, wie du aus der Sache herauskommen kannst. Was er sagt, ist richtig. Eine Scheidung kann ohne Schwierigkeiten erreicht werden. Komm mit mir, ich werde deine Kleider holen lassen.«
Immer noch rührte sich Edith nicht.
Als Frau Cathcart sie beobachtete, sah sie, wie ihre Züge sich allmählich lösten und ihre Lippen sich zu einem Lächeln öffneten; dann warf sie den Kopf zurück und lachte schallend.
»O Mutter!« Die unendliche Verachtung, die aus ihrer Stimme sprach, wirkte auf die Frau wie ein Peitschenhieb. »Du kennst mich schlecht! Mit dir zurückgehen? Mich von ihm scheiden lassen? Du bist wahnsinnig! Wenn er tatsächlich ein reicher Mann gewesen wäre, würde ich es tun; aber so wie es nun einmal ist, wenn ich ihn auch nicht liebe und obgleich ich ihm keinen Vorwurf machen würde und auch nicht kann, wenn er mich nicht liebt, so ist jetzt mein Schicksal mit dem seinen verbunden und mein Platz ist hier.«
»Was für ein rührendes Schauspiel«, entgegnete die ältere Frau boshaft.
»Es liegt eine Menge Wahrheit und viel Anständigkeit darin, Frau Cathcart«, sagte Gilbert.
Bleich vor Wut blieb seine Schwiegermutter noch einen Augenblick stehen, dann wandte sie sich um, stürzte zum Zimmer hinaus, und sie hörten, wie sie die Haustür hinter sich zuschlug.
Einige Sekunden blickte sich dieses sonderbare Ehepaar an, dann streckte Gilbert seine Hand aus.
»Ich danke dir«, sagte er. Die junge Frau senkte ihre Augen.
»Du brauchst mir nicht zu danken«, erwiderte sie dann ruhig. »Ich habe dir schon viel zuviel Unrecht angetan.«
6
Die City von London ist, wie alle Welt weiß, voll von blühenden und gut fundierten Geschäften.
Es gibt dort eine Menge von Firmen, die mit würdevollen Aufschriften die Tatsache verkünden, daß ihr Geschäft schon seit hundert Jahren am gleichen Platze stehe und daß es von den rechtmäßigen Nachkommen seiner Begründer weitergeführt würde.
Man findet dort auch in protzig eleganten Häusern, mit ganzen Fluchten von Geschäftsräumen, Aktiengesellschaften, Syndikate und sonstige Handelsunternehmungen, die im Frühjahr ins Leben treten und im Winter sich in Nichts auflösen, ohne andere Spuren ihres Daseins zu hinterlassen als unbezahlte Rechnungen und einen Hausbesitzer, der sich wenigstens damit abfinden kann, daß er sich seine Miete im voraus hat bezahlen lassen.
Die Tragödien der City von London spielen sich im weiteren Sinne hauptsächlich um das häßliche, unscheinbare Gebäude der Börse herum ab; ihre Opfer sind vielleicht unter den vereinzelten heruntergekommenen Leuten zu suchen, die wie körperlose Schatten in den Straßen um dieses grimmige Gebäude herumstreichen. Doch der unglückliche Spekulant ist keine Besonderheit der Weltstadt; seine Schicksalsgenossen, die an einem Tag oder in einer Stunde Vermögen erwerben und wieder verlieren, finden sich in jeder Stadt der Welt, die eine Börse hat.
Eines
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