005 - Die Melodie des Todes
Aussprache, obwohl Frau Cathcart sicher über alle Maßen wütend sein würde.
Als Edith den Briefumschlag schloß, mußte sie ein wenig vor sich hinlächeln. Es gab doch so etwas wie poetische Gerechtigkeit; allerdings würde vielleicht sie selbst ihr Leben lang an den Folgen der ehrgeizigen Pläne ihrer Mutter zu leiden haben. Sie hatte gehofft, daß auf ihren am frühen Morgen aufgegebenen Brief hin ihre Mutter sofort vorsprechen und die Unterredung beendet sein würde, noch bevor ihr Mann heimgekehrt war. Aber Gilbert war schon eine halbe Stunde lang im Hause, als die Bombe platzte. Das Klingeln der Dielenglocke ließ die junge Frau auffahren.
Sie lief die Treppe hinab, um selbst zu öffnen.
Frau Cathcart trat ohne ein Wort zu sagen ein und wandte sich zu der jungen Frau, nachdem diese die Tür geschlossen hatte.
»Wo ist dein schätzenswerter Gatte?« fragte sie mit erstickter Stimme.
»Mein Mann ist in seinem Arbeitszimmer«, antwortete Edith ruhig. »Willst du etwas von ihm, Mutter?« »Ob ich etwas von ihm will?« wiederholte sie atemlos.
Edith sah das Funkeln in ihren Augen, sah auch ihre eingefallenen, hageren Wangen. Für einen kurzen Augenblick hatte sie Mitleid mit dieser Frau, die ihre ganzen Zukunftsträume in einem Moment zusammenstürzen sah, wo sie bestimmt auf ihre Erfüllung gehofft hatte.
»Weiß er, daß ich komme?«
»Ich glaube sogar, er erwartet dich«, sagte die junge Frau trocken.
»Ich will ihn allein sprechen«, erklärte Frau Cathcart, sich auf halber Treppe umwendend.
»Du wirst ihn mit mir zusammen sprechen, Mutter, oder überhaupt nicht«, erwiderte Edith entschlossen.
»Du wirst tun, was ich dir sage, Edith!«
Die junge Frau lächelte.
»Mutter«, sagte sie sanft, »dein Recht, mir irgendwelche Anweisungen zu geben, hat aufgehört. Du hast mich einem andern Beschützer überantwortet, dessen Anrechte größer sind als deine.«
Das war keine gute Einleitung für die folgende Unterredung. Edith machte sich das klar, als sie die Tür öffnete und ihre Mutter einließ.
Als Gilbert sah, wer ihn besuchen kam, erhob er sich mit einer leichten Verbeugung. Er bot ihr nicht die Hand, da er sich die Gefühle dieser Frau einigermaßen vorstellen konnte.
»Wollen Sie nicht Platz nehmen, Frau Cathcart?« fragte er.
»Bei dem, was ich zu sagen habe, stehe ich lieber«, fuhr sie ihn an. »Nun, was soll das bedeuten?« Sie zog Ediths Brief heraus, den sie wieder und wieder gelesen hatte, bis sich jedes Wort in ihr Gedächtnis einprägte. »Ist es wahr«, fragte sie scharf, »daß Sie ein armer Mann sind? Daß Sie uns getäuscht haben? Daß Sie diese Ehe auf Lug und Trug aufgebaut haben …?«
Er hob seine Hand.
»Sie scheinen zu vergessen, Frau Cathcart«, sagte er ernst, »daß meine Verhältnisse schon zwischen Ihnen und mir besprochen worden sind und daß Sie mir gegenüber mit großem Nachdruck die Tatsache betont haben, Vermögensfragen und derlei Erwägungen spielten bei Ihnen keine Rolle.«
»Erwägungen!« höhnte sie. »Was wollen Sie damit sagen, Herr Standerton? Leben Sie etwa nicht auf Erden? Wohnen Sie nicht in einem Haus und essen Brot und Butter, die Geld kosten? Halten Sie sich nicht ein Auto? Solange ich in der Welt lebe und Sie in der Welt leben, werden solche Erwägungen immer von Wichtigkeit sein. Ich dachte, Sie wären ein reicher Mann, und nun sind Sie ein Bettler.«
Er lächelte etwas geringschätzig.
»Sie haben uns eine hübsche Suppe eingebrockt«, fuhr sie fort. »Sie haben eine Frau bekommen, die Sie nicht liebt - ich nehme an, Sie wissen das?« Er verneigte sich.
»Ich weiß alles, Frau Cathcart«, sagte er. »Das war das Schlimmste, was ich erfahren habe. Der Umstand, daß Sie die Ehe offenbar nur wollten, weil Sie glaubten, ich sei Sir John Standertons Erbe, schmerzt mich nicht weiter … Sie sind nicht besser als alle anderen - vielleicht sogar noch ein wenig schlechter.« Nachdenklich blickte er sie an. In seinem Blick lag etwas Sonderbares, über das sich Frau Cathcart nicht recht im klaren war. Irgendwo hatte sie diesen Blick schon gesehen, und gegen ihren Willen schauderte sie zusammen. Ihr Zorn wich einem Gefühl der Furcht.
»Ich bat Sie, die Hochzeit zu verschieben«, fuhr er müde fort. »Ich hatte einen besonderen Grund dafür, den ich jetzt nicht sagen möchte, der aber nach Ablauf von wenigen Monaten Ihr Interesse erwecken wird. Doch Sie hatten Angst, Ihren reichen Schwiegersohn zu verlieren; damals war es mir nicht klar, daß Sie
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