005 - Gekauftes Glück
er nicht betrunken ist, was nicht oft vorkommt! Und Lady Jane, nun, die bedauere ich wirklich, aber eine Halbirre ist eine Halbirre, und etwas Besseres kann man über sie nicht sagen."
Henry nickte mitfühlend. „Aber seltsam ist das doch, Hettie. Der alte Loomis hat mir vor seinem Tod von ihr erzählt. Er schwor, sie sei nicht immer so gewesen. Er meinte, sie habe früher einen klugen Kopf auf den Schultern gehabt."
Hettie nickte. „So etwas habe auch ich von Mavis Towler gehört, die vor dem Krieg Hebamme im Dorf war. Sie sagte, die Geburt der Zwillinge habe Lady Jane so verändert. Natürlich war Mavis nicht diejenige, die bei der Geburt zur Hand gegangen ist. Sie hat mir berichtet, die Familie habe ,unbekannte Leute' hinzugezogen, die bei der Entbindung von Lady Caroline und Lord David halfen.
,Unbekannte Leute' ist eine merkwürdige Formulierung, findest du nicht auch? Aber vielleicht ist Mavis auch nur eifersüchtig gewesen."
Nun war die Reihe wieder an Henry zu nicken. „Hm, Mavis war wirklich eine eifersüchtige Person, ja, das war sie. Erinnere dich, wie spitz sie um die Nase geworden ist, als ich auf Lady Marys Befehl in der Nacht, als Seine Gnaden unterwegs war, den Doktor holen mußte." Bei der Erwähnung von Lady Marys Namen hatte Henry die Stimme gedämpft und sich schuldbewußt über die Schulter umgeschaut.
Hettie kicherte. „Es ist nicht mehr nötig, Henry, Angst davor zu haben, Lady Mary zu erwähnen, es sei denn, du rechnest damit, daß ein Gespenst hinter dir auftaucht."
Er räusperte sich und bedachte seine Frau mit einem finsteren Stirnrunzeln. „Nun, es wird Zeit, daß ich wieder in den Stall komme. Unser neuer Herr erwartet eine ebensogute Behandlung seiner Pferde wie der verblichene Herzog."
Hettie faßte das Stirnrunzeln als stumme Warnung auf. Sie stand auf, seufzte und sagte: „Ich glaube, ich gehe jetzt noch oben und sehe nach, ob das Kind überhaupt etwas gegessen hat. Das Frühstück hat sie überhaupt nicht berührt, und das Dinner gestern auch nicht. Wir sehen uns beim Abendessen."
Henry sah seine Frau jedoch viel früher als erst beim Abendessen wieder. Kaum zehn Minuten waren nach diesem Gespräch vergangen, als er Hettie, atemlos und verstört wirkend, auf dem Weg zum Stall heranhasten sah.
„Henry! Henry!" rief sie. „Sie ist fort! Sie hat einige Laken verknotet und ist aus dem Seitenfenster geflohen!"
„Wer?" war die verdutzte Antwort ihres Mannes.
„Wer? Nun, wer, außer der Person, die hier war, hätte sich vor der Notwendigkeit einer Flucht gesehen?" antwortete Hettie irritiert. „Die kleine Miss, natürlich!"
Brett wollte soeben nach der mit bestem französischen Cognac - geschmuggeltem Cognac, wie er mit belustigtem Lächeln dachte - greifen, als jemand laut an die Tür pochte.
„Ja?"
„Ich bitte um Entschuldigung, daß ich Euer Gnaden zu dieser späten Stunde störe", antwortete eine Stimme, „aber ich muß mit Ihnen sprechen."
Das war des alten Henry Stimme gewesen. Was machte er hier in London? „Komm herein, Mann", antwortete Brett und schenkte sich ein Glas Cognac ein.
Die Tür wurde geöffnet, und es erschien sein unordentlich aussehender Stallmeister.
Er wirkte halbtot, und Brett ließ die Hand mit dem Glas sinken, das er an die Lippen geführt hatte. „Du lieber Himmel, Mann, was ist denn los?"
Keuchend stolperte Henry in den Raum. „Ich ... es tut mir leid, Sie zu behelligen, Euer Gnaden, aber die Neuigkeit ... ich ... die kleine Miss, sie ist fortgelaufen!"
„Die kleine ...?"
„Die kleine Miss Ashleigh, Euer Gnaden, ist geflohen!"
Brett schaute dem Alten einen Moment finster in die Augen, leerte dann den Schwenker und stellte ihn auf einen in der Nähe stehenden Tisch. „Wann?"
erkundigte er sich.
„Kaum eine Stunde nach Ihrer Abreise, Euer Gnaden. Meine Frau und ich, wir haben gedacht, daß Sie das gern wissen möchten, und ..."
„Ja, natürlich", erwiderte Brett, aber er war sich nicht sicher, ob er diese Nachricht wirklich hatte hören wollen. Im Wirbel der mit dem Tod des Großvaters verbundenen Ereignisse hatte er das Mädchen ganz vergessen gehabt, und nun fragte er sich, warum er sie nicht, wie sie es gewünscht hatte, freigelassen hatte. Es wäre einfach genug gewesen. Seit der Großvater nicht mehr lebte, gab es niemanden, den Brett durch den Umgang mit ihr hätte beschwichtigen müssen. Und dennoch, als Higgins die zweifellos von Hettie veranlaßte Frage gestellt hatte, was mit dem Mädchen geschehen
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