0069 - Das Gericht der Toten
einiger Hieroglyphen waren noch zu erkennen.
Zamorra wehrte die Hand des Kellners ab, die die letzten Spuren beseitigen wollten. Er tauchte einen Finger ganz vorsichtig in die Flüssigkeit und ließ ihn dann mit der Zungenspitze in Berührung kommen.
Es war gar kein Tomatensaft.
Es war Blut!
***
Die Stimmung in Bill Flemings Livingroom war mehr als gedrückt.
Mit düsteren Gesichtern saßen die beiden Freunde da und diskutierten.
»Du hättest mich doch mitnehmen sollen«, verlieh Bill seiner Meinung Ausdruck. »Mir wäre dieser indische Scharlatan nicht entwischt. Ich hätte ihn gepackt, ihm meine Faust vor das tückische Gesicht gehalten und…«
»Nichts dergleichen hättest du!« widersprach Zamorra überzeugt.
»Du hättest nicht die geringste Chance gehabt, seinem heimtückischen magischen Angriff zu widerstehen. Wie Nicole würdest du jetzt in der Nervenklinik liegen, mit total verwirrtem Geist und hilflos wie ein kleines, böses Kind. Und auch bei dir könnte kein Arzt, kein Psychiater sagen, was dir eigentlich fehlt.«
Bill biß erbittert die Zähne zusammen.
»Vielleicht hast du recht«, gab er zu. Und nach einer Weile des Nachdenkens: »Sag’ mal, Zamorra – gibt es nicht zu jedem Zauber einen Gegenzauber? Wenn wir den finden und anwenden würden, müßte Nicole doch wieder in einen normalen Menschen zurückverwandelt werden können. Oder irre ich mich da etwa?«
Hart lachte Zamorra auf. »Wenn! Die Betonung liegt auf wenn. Wir kennen den Originalzauber nicht, und wir kennen sein Gegenstück nicht. So sieht die Sache aus.«
Der Kulturhistoriker seufzte. »Madhvakrishna kennt vermutlich beide.«
»Höchstwahrscheinlich. Nur… wir haben den Guru nicht. Er ist, während ich mich noch um Nicole kümmerte, blitzschnell abgereist. Wohin? Ein Mensch mit seinen Fähigkeiten findet tausend Möglichkeiten, seine Spuren so zu verwischen, daß niemand ihn findet. Und ich bin ganz sicher, daß der Kerl größten Wert darauf legt, von mir nicht gefunden zu werden. Er wird erkannt haben, daß sein teuflischer Bann bei mir auf Granit gestoßen ist. Ganz klar, daß er jede weitere Konfrontation mit mir vermeiden will.«
Die Unterhaltung der beiden geriet ins Stocken. Jeder von ihnen hing seinen Gedanken nach, suchte nach einem gangbaren Weg, Nicole aus ihrer entsetzlichen Lage zu befreien.
Wie schon so manches Mal in ähnlichen Situationen wurde sich der Professor bewußt, wie viel ihm an dem Mädchen lag. Er würde alles für sie tun, im wahrsten Sinne des Wortes alles. Nur war niemand da, der ihm sagen konnte, was er denn tun sollte.
Dann kam ihm ganz plötzlich eine Gedanke.
»Sekere!«
»Wie?« fragte Bill.
Zamorra merkte erst jetzt, daß er unwillkürlich laut gedacht hatte.
Aber das machte nichts. Der Freund konnte ruhig teilhaben an seinen vagen Überlegungen.
»Ich dachte an den Kaa des Amon-Priesters«, erläuterte er. »Wenn wir mit ihm Verbindung bekommen können… Madhvakrishna hat sich fraglos eines ägyptischen Banns bedient. Die Hieroglyphen, die ich auf der Tischplatte leider zu spät entdeckt habe, lassen gar keinen anderen Schluß zu. Vermutlich hat der Guru die Formel von seinem neuen Herrn und Meister, dem Kaa dieses verfluchten Pharao bekommen. Und deshalb …«
»Verstehe schon«, sagte Fleming eifrig. »Wenn der Kaa des Nerferptah die Formeln kennt, müßte sie auch der Kaa dieses Priesters kennen.«
»Ja, in diese Richtung gingen meine Überlegungen!«
»Versuche es!« sagte Bill. »Versuche von dir aus, mit Sekere in Verbindung zu treten. Du bist kein normaler Mensch. Dein Amulett verleiht dir besondere Kräfte. Es wäre ja nicht das erste Mal, daß dein Geist die Grenzen unserer Welt durchbricht und in jenseitige Bereiche vordringt. Du mußt es versuchen.«
Der Professor nickte langsam. Es stimmte, daß sein Geist unter bestimmten Voraussetzungen nicht an das Diesseits gebunden war. Er hatte dies in der Vergangenheit bereits bewiesen. Und vielleicht würde es ihm auch jetzt wieder gelingen.
Entschlossen nahm er den Talisman von seiner Brust. Er fühlte sich jetzt ganz kühl an, wie ein Stein, der in normal temperiertem Wasser gelegen hatte.
Und auch der strahlende Silberglanz, den das Amulett entfalten konnte, war jetzt nur zu ahnen. Die magischen Kräfte, die in ihm ruhten, schlummerten zur Zeit. Aber Zamorra konnte sie jederzeit wecken.
Er lehnte sich ganz entspannt im Sessel zurück, umfaßte den Talisman mit fester Hand und drückte ihn gegen die Stirn. Dann
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