0085 - Der Feuergötze
noch ein paar Zehntelsekunden zuvor gestanden hatte.
Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: Der Bann war gebrochen. Der magische Schutzschild existierte nicht mehr. Keine Zauberkraft mehr hielt die Felsen unverrückbar zusammen. Eine Öffnung war geschaffen. Die anderen Steine lasteten ganz offenbar nur noch durch ihr schieres Eigengewicht aufeinander.
Fasziniert starrte Chedli in die Öffnung hinein.
Er blinzelte ungläubig. Ein eiskalter Schauder jagte ihm über den Rücken.
Das gab es doch nicht!
»Djamaa!« krächzte er.
Der Leibwächter folgte seinem Blick. Und erstarrte…
Das war die Bestätigung für Chedli. Er hatte sich nicht getäuscht, war keiner Halluzination zum Opfer gefallen.
In der Felsenöffnung stand tatsächlich ein Mensch.
***
Die Boeing der Tunis Air landete auf dem Flughafen von Tunis-Carthage.
Zusammen mit den anderen Reisenden aus Paris stiegen Professor Zamorra und Nicole Duval die Gangway hinunter und gingen zum Flughafengebäude hinüber.
Es herrschte eine brütende Hitze. Die Luft flimmerte. Der Professor hätte sich nicht gewundert, wenn der Asphalt des Flugplatzes Blasen werfen würde.
Zamorra lockerte den Krawattenknoten, öffnete den obersten Hemdenknopf. Ein leichter Schweißfilm bedeckte den Halsansatz. Er fuhr mit der Hand darüber. Auf der Stelle verdüsterte sich seine Miene.
Nicole war sein plötzlicher Stimmungsumschwung nicht entgangen.
»Ist es die Hitze, Chef?« fragte sie. »Machst du deshalb so ein ärgerliches Gesicht?«
Er schüttelte den Kopf. »Aber nein. Es ist nur…« Mit dem Zeigefinger tippte er gegen den Hals. »Du weißt, was ich normalerweise hier zu tragen pflege.«
Das Mädchen verstand sofort. »O ja, natürlich. Dein Amulett!«
Zamorra nickte. »Ich komme mir richtig nackt vor. Ein dummes Gefühl. Mir ist, als hätte ich ein Auge oder eine Hand verloren. Schlimmer vielleicht noch.«
Sie betraten das Abfertigungsgebäude. Während sie auf ihr Gepäck warteten, fragte Nicole leise: »Chef, glaubst du wirklich, daß du es hier wiederfinden wirst?«
»Ich muß es wiederfinden, Nicole!«
»Aber wir haben doch überhaupt keinen Anhaltspunkt. Alles was wir wissen ist, daß zwei Tunesier die Räuber waren. Aber Tunesien ist groß. Was wir vorhaben, ist vergleichbar mit der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Wie viele Tunesier gibt es - vier Millionen?«
»Fünf.«
»Großer Gott!«
Die Koffer rollten über das Förderband. Ein paar Minuten später lagen Paß- und Zollformalitäten hinter ihnen. Sie nahmen eine Taxe, um sich in die City bringen zu lassen.
Die Fahrt verlief weitgehend schweigend. Geistesabwesend blickte der Professor aus dem Fenster. Der erste Eindruck von Tunesien war nicht gerade berauschend. Einem flachen Ödgelände folgte ein unromantischer See. Durch das geöffnete Vorderfenster drangen ziemlich üble Gerüche in Wageninnere. Der See stank.
Bald war Tunis, die Metropole des Landes, erreicht. Es ging eine breite, von Palmen gesäumte Straße entlang, die Avenue Mohammed V. Am Place d'Afrique bog der Taxifahrer dann in die Hauptstraße von Tunis ein, die wie alle Hauptstraßen in Tunesien Avenue Habib Bourguiba hieß.
»Chef!«
Zamorra wandte seinen Blick von der altmodischen Fassade des Hotels Claridge ab.
»Ja, Nicole?«
Das Mädchen zeigte aus dem Fenster auf ihrer Seite. Dort stand ein nüchternes, kompaktes Gebäude, dessen hervorstechendstes Merkmal teilweise vergitterte Fenster waren. Das Innenministerium, in dem auch die Polizei zu Hause war.
»Vielleicht sollten wir hier…«, setzte Nicole an.
Der Professor machte eine abwehrende Handbewegung. »Was soll ich sagen? Daß ich zwei typische junge Tunesier mit Oberlippenbärtchen suche?«
»Vielleicht haben sie eine Verbrecherkartei. Vielleicht können wir sie an Hand von Fotos identifizieren.«
»Ich glaube nicht, daß es sich bei den beiden um ›normale‹ Verbrecher gehandelt hat«, sagte Zamorra überzeugt. »Hinter dem Raub des Amuletts steckt kein simples Eigentumsdelikt, sondern etwas ganz anderes. Aber mir ist da inzwischen eine andere Idee gekommen!«
»Und die wäre?«
»Später, Nicole.«
Die Taxe war weitergefahren, hielt jetzt an. Das Ziel der Fahrt war erreicht: Tunis' einziger Wolkenkratzer, das einundzwanzigstöckige Luxushotel Africa Meridien, vielleicht das aufwendigste Hotel des gesamten Erdteils.
Der Taxifahrer fuhr wieder an und legte ein schneidiges Wendemanöver hin. Sein Glück, daß die Arrestzellen bereits ein
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