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01_Der Fall Jane Eyre

01_Der Fall Jane Eyre

Titel: 01_Der Fall Jane Eyre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jasper Fforde
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nachdem Ross mir den Weg zur LitAg-Dienststelle
    beschrieben hatte, ließ ich ihn mit Milton 496 allein.
    Ich stieg die geschwungene Treppe hinauf in den ersten Stock und
    ging einmal quer durch das Gebäude. Der gesamte Westflügel war
    SpecOps beziehungsweise deren Außenstellen vorbehalten. Die
    Umwelt-Agenten hatten hier ihre Büros, ebenso Kunstdiebstahl und
    ChronoGarde. Selbst Spike, der Typ, der mich abgeholt hatte, hatte
    hier ein Büro, in dem er allerdings kaum je anzutreffen war, wie mir

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    mitgeteilt wurde. Er bevorzugte einen dunklen und ziemlich
    übelriechenden Verschlag in der Tiefgarage, sagten seine Kollegen.
    Auf dem Flur drängten sich Aktenschränke und Bücherregale; in der
    Mitte war der alte Teppichboden fast durchgelaufen. Kein Vergleich
    mit London, wo die LitAgs über modernste Recherchesysteme
    verfügten. Schließlich hatte ich die richtige Tür gefunden und klopfte.
    Da ich keine Antwort erhielt, trat ich ein.
    Der Raum sah aus wie die Bibliothek eines verarmten Landadeligen.
    Er war zwei Stockwerke hoch, mit Regalen voller Bücher, die jeden
    Quadratzentimeter Wand bedeckten. Eine Wendeltreppe führte auf
    eine schmale Galerie, die sich an den Wänden entlangzog und den
    Zugang zu den oberen Regalreihen ermöglichte. In der Raummitte
    standen mehrere Pulte, wie im Lesesaal einer Bibliothek. Überall auf
    den Tischen und dem Fußboden türmten sich noch mehr Bücher und
    Papiere, und ich fragte mich, wie man hier überhaupt arbeiten konnte.
    Die Handvoll Beamte, die hier beschäftigt waren, hatten mein
    Eintreten bislang nicht bemerkt. Ein Telefon klingelte, und ein junger
    Mann nahm ab.
    »LiteraturAgentur«, sagte er höflich. Er zuckte sichtlich zusammen,
    als eine Schimpfkanonade aus dem Hörer quoll.
    »Es tut mir wirklich sehr leid, daß Ihnen Titus Andronicus nicht
    gefallen hat, Ma’am«, sagte er schließlich, »aber das fällt leider nicht
    in unseren Zuständigkeitsbereich – vielleicht sollten Sie sich in
    Zukunft an Komödien halten.«
    Ich entdeckte Victor Analogy, der sich mit einem Kollegen über
    eine Akte beugte. Ich postierte mich so, daß er mich sehen konnte,
    und wartete, bis er fertig war. Es schien mir nicht angemessen, den
    alten Herrn bei einer Besprechung zu stören.
    »Ah, Next! Willkommen in unserer bescheidenen Behausung.
    Augenblick noch, ja?«
    Ich nickte, und Victor machte weiter.
    »… ich glaube, Keats hätte das nicht so blumig formuliert, und die
    dritte Strophe ist von der Konstruktion her etwas wacklig geraten.
    Wenn Sie mich fragen, handelt es sich um eine raffinierte Fälschung,

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    aber lassen Sie es ruhig noch mal durch den Versmaßanalysator
    laufen.«
    Der Beamte nickte und ging davon. Victor schüttelte mir lächelnd
    die Hand.
    »Das war Finisterre. Er kümmert sich um Lyrikfälschungen des
    neunzehnten Jahrhunderts. Kommen Sie, ich zeige Ihnen alles.«
    Er deutete auf die Bücherregale.
    »Wörter sind wie Blätter, Thursday. Genaugenommen sogar wie
    Menschen, sie fühlen sich unter ihresgleichen am wohlsten.«
    Er lächelte.
    »Wir haben hier über eine Milliarde Wörter. Hauptsächlich
    Nachschlagewerke. Eine umfangreiche Sammlung, die neben vielen
    bekannten auch eine Reihe weniger bekannter Werke umfaßt. Die
    finden Sie noch nicht einmal in der Bodleiana. Wir haben noch einen
    Lagerraum im Keller. Auch der ist voll. Eigentlich müßten wir
    dringend umziehen, aber die LitAgs sind, gelinde gesagt, leicht
    unterfinanziert.«
    Er führte mich zu Bowden, der kerzengerade an seinem Pult saß.
    Sein Jackett hing gefaltet über der Stuhllehne, und auf seinem
    Schreibtisch herrschte eine geradezu obszöne Ordnung.
    »Bowden kennen Sie ja schon. Netter Bursche. Er ist seit zwölf
    Jahren bei uns und auf die Prosa des neunzehnten Jahrhunderts
    spezialisiert. Er wird Sie einarbeiten. Das da drüben ist Ihr
    Schreibtisch.«
    Er starrte einen Moment lang auf den leergeräumten Tisch. Man
    hatte für mich keineswegs eine neue Stelle geschaffen. Vor kurzem
    war einer von ihnen gestorben, und ich trat seine Nachfolge an. Ich
    saß auf dem Stuhl eines Toten, am Schreibtisch eines Toten. Der
    Beamte am Nebentisch sah mich neugierig an.
    »Das ist Fisher. Er ist unser Fachmann für Urheberrecht und
    zeitgenössische Literatur.«
    Fisher war ein stämmiger Bursche mit leichtem Silberblick; er war
    anscheinend genauso breit wie lang. Er blickte zu mir hoch und

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    grinste: Zwischen seinen Zähnen hing noch etwas Schnittlauch

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