01_Der Fall Jane Eyre
fertig.
Ihretwegen werde ich mich nach einer gangbaren Alternative umsehen
müssen. Nach einem Buch, das im Unterschied zum Chuzzlewit echte
literarische Qualitäten aufweist.«
»Doch nicht etwa Große Erwartungen? «
Acheron blickte ihn mitleidig an. »Dickens ist abgehakt, Mr. Next.
Wie gern hätte ich mich in Hamlet eingeschlichen und diesen
depressiven Dänenprinzen erwürgt, oder gleich in Romeo und Julia,
um diesen kleinen Scheißer aus Verona endlich verschwinden zu
lassen.« Er seufzte, bevor er weitersprach. »Aber leider ist ja keins
von Shakespeares Originalmanuskripten erhalten.« Er dachte einen
Augenblick nach. »Aber die Bennetts könnten eventuell auf das eine
oder andere Familienmitglied verzichten …«
» Stolz und Vorurteil ?« brüllte Mycroft. »Sie herzloses Ungeheuer!«
»Mit Schmeicheleien kommen Sie bei mir nicht weit, Mycroft.
Ohne Darcy und Elizabeth wäre Stolz und Vorurteil doch ziemlich
fad, oder? Aber Austen ist vielleicht nicht ganz das richtige. Wie
wär’s mit Trollope? Eine geschickt plazierte Nagelbombe in
Barchester wäre bestimmt lustig. Der Verlust von Mr. Crawley würde
ohne Zweifel hohe Wellen schlagen. Wie Sie sehen, mein lieber
Mycroft, könnte sich die Rettung Mr. Chuzzlewits im nachhinein als
äußerst töricht erweisen.«
Lächelnd wandte er sich an Felix8: »Mein Freund, warum ziehen
Sie nicht einige Erkundigungen zu Umfang und Verbleib der
Manuskripte ein?«
Felix8 blieb kühl: »Ich bin nicht Ihr Sekretär, Sir. Ich finde, Mister
Hobbes wäre für diese Aufgabe wesentlich besser geeignet.«
Acheron runzelte die Stirn. Von allen Felixen hatte nur Felix3 es je
gewagt, einen direkten Befehl zu verweigern. Bald darauf hatte er den
Armen aufgrund einer überaus enttäuschenden Leistung anläßlich
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eines mißlungenen Überfalls exekutieren müssen. Aber das war
Acherons eigene Schuld; um Felix3 etwas mehr Persönlichkeit zu
geben, hatte er ihm einen Hauch von Moral gelassen. Seither waren
ihm sämtliche Felixe nur mehr treue Diener; wenn er intellektueller
Stimulanz bedurfte, hielt er sich an Hobbes und Dr. Müller.
»Hobbes!« schrie Hades aus vollem Hals. Der arbeitslose
Schauspieler kam mit einem großen Holzlöffel in der Hand aus der
Küche gelaufen.
»Ja, Herr?«
Acheron wiederholte seinen Befehl, und Hobbes zog sich mit einer
tiefen Verbeugung zurück.
»Felix8!«
»Sir?«
»Wenn es Ihnen nicht zuviel Mühe macht, schließen Sie Mycroft in
seinem Zimmer ein. Ich denke, wir werden eine Weile auf ihn
verzichten können. Geben Sie ihm zwei Tage kein Wasser und fünf
Tage nichts zu essen. Das sollte als Strafe für die Vernichtung des
Manuskripts genügen.«
Felix8 nickte und entfernte Mycroft aus dem Salon des Hotels. Er
zerrte ihn quer durch die Halle und die breite Marmortreppe hinauf.
Außer ihnen befand sich niemand in dem modrigen alten Gebäude; die
große Eingangstür war fest verschlossen.
Am Fenster blieb Mycroft stehen und sah hinaus. Er war schon
einmal in der walisischen Hauptstadt gewesen, um auf Einladung der
Republik einen Vortrag über die Kohlehydrierung zu halten. Auch
damals hatte er in diesem Hotel gewohnt. Er hatte der Crème de la
crème aus Politik und Wissenschaft die Hand geschüttelt; und sogar
Brawd Uljanow, der über achtzigjährige Führer der Volksrepublik
Wales, hatte ihm eine der seltenen Audienzen gewährt. Das mußte
jetzt fast dreißig Jahre her sein, aber die tiefliegende Stadt hatte sich
kaum verändert. Damals wie heute dominierte Schwerindustrie die
karge Landschaft, und der Gestank von Eisenhütten schwängerte die
Luft. In den letzten Jahren waren viele Bergwerke geschlossen
worden, aber die Fördertürme standen noch; ehern wachten sie als
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dunkle Silhouetten über die flachen, schiefergedeckten Häuser. Hoch
über der Stadt, auf Morlais Hill, blickte die gigantische
Kalksteinstatue von John Frost auf die Republik hinab, die er
gegründet hatte; Gerüchten zufolge gab es Bestrebungen, die
Hauptstadt aus dem industrialisierten Süden zu verlegen, doch dazu
war Merthyr als spirituelles Zentrum zu bedeutend.
Sie gingen weiter und gelangten schließlich zu Mycrofts Zelle, einer
spärlich möblierten, fensterlosen Kammer. Als die Tür hinter ihm ins
Schloß fiel und er allein war, kehrten Mycrofts Gedanken zu dem
zurück, was ihm am meisten Sorgen machte: Polly. Zwar hatte er
immer schon gewußt, daß sie bisweilen zum Flirten neigte, dem
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