01 - Geheimagent Lennet wird ausgebildet
nicht viel erspähen: ein oder zwei Leitersprossen, die Masse des Rumpfes, einen beweglichen Schatten, das schaumgekrönte Meer, das war alles.
Lennet war vollkommen ruhig, die Sinne hellwach, die Muskeln angespannt.
In wenigen Sekunden würde ihm, Lennet-Armand, der gefährliche feindliche Spion, den das gesamte Lehrpersonal der FND-Schule vergeblich suchte, preisgegeben sein!
Nun begann der Schatten bereits heraufzusteigen, viel schneller, als er hinabgeklettert war, denn er hatte sich seiner Last entledigt und hatte beide Hände frei.
Einen Augenblick lang fragte sich Lennet noch, was der Unbekannte mit dem geheimnisvollen Gegenstand angefangen hatte. Allem Anschein nach hatte er ihn ins Wasser geworfen.
Im nächsten Augenblick aber... »Guten Tag, wie geht's?« fragte Lennet höflich.
Und ohne jedes Zartgefühl stellte er seinen Fuß auf die linke Hand des Spions, die den Deckrand ergriffen hatte.
Keine Antwort. Lennet glaubte zuerst, es mit einem Neger zu tun zu haben, so schwarz war das Gesicht des Unbekannten.
Dann begriff er, daß es sich um eine nächtliche Tarnfärbung handelte.
Der Schatten, der jäh innegehalten hatte, stieg noch eine Sprosse höher.
»Sachte, sachte, wenn's beliebt. Bleiben Sie, wo Sie sind", sagte Lennet.
Dann beging er einen großen Fehler: Er kauerte sich nieder, um die Züge des anderen ins Auge zu fassen.
Das schwarze Gesicht, unbekannt oder unkenntlich, befand sich nun etwa einen halben Meter von dem seinen entfernt.
Plötzlich sah er die Rechte des Spions aus der Finsternis auftauchen und erhielt eine Ladung Pfeffer mitten ins Gesicht!
Die Augen schmerzten ihn fürchterlich.
Und dann stürzte Lennet, der sich instinktiv zurückgeworfen hatte, auf den Rücken - die Hand des Spions lag nicht mehr unter dem Fuß des genialen Schülers; der Spion würde die Flucht ergreifen!
Trotz seiner brennenden und tränenden Augen hatte Lennet noch so viel Geistesgegenwart, sich herumzuwerfen und die Beine zu grätschen.
Dann überwand er sich, trotz der Schmerzen Ausschau zu halten. Als der Spion auf Deck gesprungen war, schlossen sich Lennets Beine wie eine Schere über den seinen. Der Spion stürzte.
Sie rangen kurz miteinander. Der Unbekannte war ebenfalls im Judo kein Anfänger mehr, konnte es aber mit Lennet nicht aufnehmen. Übrigens schien er auch nicht seine ganze Energie einzusetzen. Nach wenigen Sekunden saß Lennet fest auf seinem Gegner. Und seine Hände schlossen sich vorbeugend um den Hals des Unbekannten.
Da sprach der Unbekannte mit erstickter Stimme: »Erwürgen Sie mich nicht, Armand.«
Es war Corinna.
»Was machst du hier?« herrschte er sie an, ohne seinen Griff zu lockern, und das »Du", mit dem er sie zum erstenmal anredete, hatte nichts Freundliches.
Corinna antwortete mit erschöpfter Stimme: »Schon gut, du hast gewonnen, Armand. Es hat keinen Sinn, hier ein Kreuzverhör anzustellen. Papa wird eine Krankheit draus machen, das ist alles.«
Der Unbekannte war im Judo kein Anfänger
»Wirst du wohl meine Fragen beantworten? Was machst du hier?«
»Armand, sei doch nicht so tierisch ernst! Ich hab eine Boje mit einem verstärkbaren kleinen Sender ins Wasser getan. Papa brauchte mich also doch nicht zu zwingen, zu ihm zurückzukehren.«
Lennet grinste höhnisch. »Aha, dein lieber Papa hätte dich gezwungen! Armes Häschen! Sag mir mal: Was soll dieser schwimmende Sender?«
»Den Anschein erwecken, als hätte ihn ein feindlicher Agent hergestellt. Es ist ein Gerät, das während einer bestimmten Anzahl von Stunden auf einer bestimmten Wellenlänge automatisch sendet.«
»Was sendet?«
»Irgend etwas. Ein Signal. Es soll von einem Unterseeboot aufgefangen werden, und der Feind wird dadurch informiert, wo wir uns ungefähr zu dieser Zeit befinden.«
»Und was soll das Unterseeboot dann unternehmen?«
»Das weiß ich nicht. Zum Beispiel uns torpedieren.«
»Uns torpedieren? Hast du denn Lust zu sterben?«
»Du weißt ganz gut, daß das Ganze ein Spiel ist.«
»Wieso ein Spiel?«
»Na vielleicht nicht? Der fiktive feindliche Agent, ist der kein Spiel?«
»Äh! Weil du selbst der feindliche Agent bist?«
Wenn Lennet noch irgendwelche Zweifel gehabt hatte, so schmolzen sie jetzt dahin. Corinna war ganz sicher die wirkliche feindliche Spionin! Sie konnte nicht ahnen, daß Lennet besser informiert war als sie: daß es dieses Schuljahr keinen fiktiven feindlichen Agenten geben würde. Sie hatte also mit bewundernswertem Geschick die günstige
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