01 - Gnadenlos
hatte und blutete wie ein Schwein.
»Hallo? Ich rufe wegen der Anzeige mit dem Wagen an... ja stimmt«, sagte Kelly. »Gleich jetzt, wenn Sie möchten... Okay, sagen wir in zirka fünfzehn Minuten? Fein, danke, Madam. Ich bin gleich da. Bis gleich.« Er hängte auf. Wenigstens das klappte. Kelly bedachte das Innere der Telefonzelle mit einem schiefen Grinsen. Die Springer war an einem der Gästeplätze in einem Yachthafen des Potomac vertäut. Er mußte einen neuen Wagen kaufen, aber wie dorthin kommen, wo der neue Wagen war? Wenn er hinfuhr, konnte er mit dem neuen Auto zurückfahren, aber was war dann mit dem alten? Es war so komisch, daß er über sich selber lachen mußte. Da griff das Schicksal ein in Gestalt eines leeren Taxis, das am Eingang des Hafens vorbeifuhr, und so konnte er sein Versprechen an die alte Dame halten.
»Der 45000-Block, Essex Avenue«, wies er den Fahrer an. »Wo ist das, Mann?«
»Bethesda.«
»Das kostet aber extra, Mann«, erklärte der Fahrer und steuerte nach Norden.
Kelly gab ihm einen Zehndollar-Schein. »Da ist noch so einer drin wenn Sie mich in fünfzehn Minuten hinbringen.«
»Spitze.« Und schon wurde Kelly von der Beschleunigung in seinen Sitz gedrückt. Das Taxi mied die Wisconsin Avenue fast auf der ganzen Strecke. An einer roten Ampel fand der Fahrer die Essex Avenue auf dem Stadtplan und konnte schließlich zwanzig Sekunden vor Ablauf der Frist die zehn Dollar extra einheimsen.
Es war ein gehobenes Wohnviertel, und das Haus war leicht zu finden. Da stand er, ein VW-Käfer, unschön tortencremegelb mit ein paar Rostflecken. Es hätte kaum besser sein können. Kelly sprang die vier Holzstufen hoch und klopfte an die Tür.
»Hallo?« Das Gesicht entsprach ganz der Stimme. Sie mußte schon an die achtzig sein, klein und gebrechlich, aber mit entrückten grünen Augen, die von einer glücklicheren Vergangenheit kündeten und durch die dicke Brille vergrößert wurden. Ihr graues Haar zeigte noch ein paar blonde Strähnen.
»Mrs. Boyd? Ich habe vorhin wegen des Wagens angerufen.«
»Wie heißen Sie?«
»Bill Murphy, Madam.« Kelly lächelte gutmütig. »Schrecklich heiß, nicht wahr?«
»Fürchterlich«, meinte sie, was wohl fürchterlich heißen sollte. »Warten Sie einen Augenblick.« Gloria Boyd verschwand und kam gleich mit den Schlüsseln wieder. Sie begleitete ihn sogar mit zum Auto. Kelly führte sie am Arm die Stufen hinunter.
»Vielen Dank, junger Mann.«
»Gern geschehen, Madam«, erwiderte er galant.
»Wir haben den Wagen für unsere Enkelin angeschafft. Als sie aufs College ging, nahm ihn dann Ken«, sagte sie, selbstverständlich voraussetzend, daß Kelly wußte, wer Ken war.
»Wer, bitte?«
»Mein Mann«, sagte Gloria, ohne sich umzudrehen. »Er ist vor einem Monat gestorben.«
»Mein herzliches Beileid, Madam.«
»Er war lange krank«, sagte die Frau, die sich noch nicht ganz von dem Schock des Verlusts erholt, aber die Tatsache schon akzeptiert hatte. Sie übergab ihm die Schlüssel. »Hier, sehen Sie ihn sich an.«
Kelly sperrte den Wagen auf. Er sah ganz wie das Auto eines Collegestudenten aus, das dann von einem älteren Mann gefahren worden war. Die Sitze waren abgenutzt, einer hatte einen langen Riß, womöglich von einer Kiste mit Kleidern oder Büchern. Er drehte den Schlüssel um, und das Auto sprang sofort an. Der Tank war sogar voll. Die Anzeige hatte bezüglich der gefahrenen Kilometer nicht gelogen, nur 70000 auf dem Tacho. Er bat darum, einmal um den Block fahren zu dürfen, und erhielt die Erlaubnis dazu. Mechanisch war das Auto in Ordnung, entschied er, während er bei der wartenden Besitzerin wieder vorfuhr.
»Woher kommt all der Rost?« fragte er sie, während er ihr die Schlüssel wieder aushändigte.
»Sie ist in Chicago zur Schule gegangen, auf die Northwestern; bei dem schrecklichen Schnee da oben ist viel Salz gestreut worden.«
»Eine gute Schule. Gehen wir wieder hinein.« Kelly nahm ihren Arm und führte sie ins Haus zurück. Es roch wie im Haus eines alten Menschen, in der Luft hing schwer der Geruch nach Staub, den abzuwischen sie zu müde war, und nach abgestandenem Essen, denn sie bereitete die Mahlzeiten immer noch für zwei Personen zu.
»Haben Sie Durst?«
»Ja, danke, Madam. Ein Glas Wasser wäre nett.« Kelly sah sich um, während sie in der Küche war. An der Wand hing ein Foto, ein Mann in einer strammen Uniform und einem Sam-Browne-Gürtel, der eine junge Frau in einem sehr engen, fast zylindrischen
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