01 - Gnadenlos
erwidert. Sam Rosen war schlechter Laune, das sah der Stationsarzt sofort. Der Professor hatte bereits einen Zwanzig-Stunden-Tag hinter sich. Was eigentlich in sechs Stunden hätte vorüber sein sollen, hatte sich zu einem Marathonwettlauf mit dem Tode entwickelt. Es ging um eine ältere Frau, die eine Treppe hinuntergestürzt war. Und vor knapp einer Stunde hatte Rosen diesen Wettlauf schließlich verloren. Er hätte sie retten müssen, sagte sich Sam, der sich immer noch nicht darüber klar werden konnte, was schiefgegangen war. Er war über diese Verlängerung eines ohnehin höllischen Tages eher dankbar als aufgebracht. Vielleicht konnte er wenigstens diesen Patienten retten.
»Also, was haben wir hier«, fragte der Professor kurz angebunden.
»Schußverletzung durch eine Schrotflinte, etliche Körner sehr nahe am Rückenmark, Sir.«
»Okay.« Rosen bückte sich, die Hände hinter dem Rükken. »Woher kommt das Glas?«
»Er saß in einem Auto«, rief ihm Eaton von der anderen Seite des Abteils zu.
»Das müssen wir beseitigen und ihm auch den Kopf rasieren«, sagte Rosen, während er noch die Verletzung taxierte. »Blutdruck?«
»Blutdruck fünfzig zu dreißig«, meldete eine Krankenschwester. »Puls einhundertvierzig und schwach.«
»Da werden wir einiges zu tun haben«, bemerkte Rosen. »Steht ziemlich unter Schock, unser Mann. Hmm.« Er verstummte für einen Moment. »Die Gesamtkonstitution des Patienten sieht gut aus, guter Muskeltonus. Erst mal müssen wir ihm wieder Blut zuführen.« Rosen sah, wie zwei Einheiten angeschlossen wurden, noch während er sprach. Die Notaufnahmeschwestern waren äußerst tüchtig, und er nickte ihnen anerkennend zu.
»Wie geht's Ihrem Sohn, Margaret?« fragte er die Oberschwester.
»Fängt im September an der Carnegie an«, antwortete sie, während sie die Tropffrequenz an der Infusionsflasche einstellte.
»Margaret, als nächstes muß der Nacken gesäubert werden. Ich will ihn mir ansehen.«
»Ja, Doktor.«
Die Schwester suchte sich eine Zange, schnappte sich einen großen Wattebausch, den sie in destilliertes Wasser tauchte, und wischte damit behutsam das Genick des Patienten ab, sog das Blut auf und legte die Einschußlöcher bloß. Es sah schlimmer aus, als es in Wirklichkeit vielleicht war, das sah sie sofort. Während sie den Patienten saubertupfte, zog Rosen sich einen sterilen Operationskittel über. Als er wieder beim Verletzten war, hatte Margaret Wilson bereits die sterilen Instrumente aufgedeckt. Eaton und Marconi blieben in der Ecke und beobachteten alles genau.
»Gut gemacht Margaret«, sagte Rosen, während er seine Brille aufsetzte. »In was wird er seinen Abschluß machen?«
»Ingenieurwesen.«
»Das ist gut.« Rosen hielt die Hand hoch. »Pinzette.« Schwester Wilson drückte ihm eine in die Hand. »Ein aufgeweckter junger Ingenieur findet überall was.«
Rosen suchte sich ein kleines, rundes Loch in der Schulter des Patienten aus, das ein gutes Stück von jeder lebenswichtigen Stelle entfernt war. Mit einer Behutsamkeit, die seine Handbewegungen beinahe komisch aussehen ließ, tastete er vorsichtig hinein und holte ein einzelnes Bleikügelchen heraus, das er gegen das Licht hielt. »Siebener Korn, glaube ich. Jemand hat unseren Freund hier mit einer Taube verwechselt. Das läßt hoffen«, sagte er zu den Sanitätern. Nun, da er die Korngröße und die mögliche Einschlagriefe kannte, beugte er sich tief über das Genick. »Hmmm. Wie ist der Druck jetzt?«
»Ich prüfe gerade«, sagte eine Schwester vom anderen Ende des Tisches. »Fünfzig zu vierzig, steigend.«
»Danke«, sagte Rosen, noch immer über den Patienten gebeugt. »Wer hat die erste Infusion gemacht?«
»Ich«, erwiderte Eaton.
»Gute Arbeit« Rosen blickte auf und blinzelte. »Manchmal denke ich, daß ihr Feuerwehrleute mehr Leben rettet als wir. Das hier haben Sie gerettet todsicher.«
»Besten Dank, Doktor.« Eaton kannte Rosen nicht besonders gut, aber er vermerkte es, daß sein Ruf wohlverdient war. Ein Feuerwehrsanitäter bekam nicht jeden Tag ein solches Lob von einem ordentlichen Professor. »Wie wird er es
- ich meine, die Genickverletzung?«
Rosen hatte sich schon wieder prüfend über den Patienten gebeugt. »Reaktionen, Doktor?« fragte er den Notarzt
»Positiv. Guter Babinsky. Keine massiven Anzeichen für eine Beeinträchtigung der Oberflächennerven«, erwiderte Severn. Das war wie in einer Prüfung, was den jungen Stationsarzt immer nervös machte.
»Es ist
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