01 Nightfall - Schwingen der Nacht
Gras. Seine Flügel schlugen noch einmal, um Eis und Schnee abzuschütteln, und falteten sich dann auf seinem Rücken zusammen. Bleierne Wolken verbargen die Sonne. Hinter dem Rastplatz rasten Autos auf der Interstate vorbei, wobei die Reifen im Schneematsch ihre Spuren hinterließen. Zwei Wagen standen noch auf dem Parkplatz: ein weißer Van mit einem Kennzeichen aus Alabama und ein Sattelschlepper. Beim Anblick des zerbrochenen Sattelschlepperfensters wusste Lucien, dass sein Sohn getrunken hatte, wobei die kaputte Scheibe darauf hindeutete, dass er ziemlich verzweifelt gewesen sein musste.
Lucien schob die Flügel in ihre Scheiden und ging zum Transporter hinüber. Er war Dantes verklingendem Chaoslied gefolgt. Doch der Zorn, der Schmerz und der Wahnsinn des Liedes hatten nicht nachgelassen; sie brannten noch in Luciens Herz.
Dante hatte sich in seinem eigenen verletzten Geist verloren.
Etwa eine Stunde zuvor war die elektrostatische Störung verschwunden, die ihre Verbindung blockiert hatte, und Lucien war ihr wie einer ätherischen Spur bis zu seinem im Schlaf liegenden Kind gefolgt.
Er legte die Finger um den eiskalten Türgriff. Verriegelt. Indem er die Hand flach auf die Tür legte, ließ er Energie ins Schloss strömen. Blaue Funken regneten auf den Asphalt herab und schmolzen den Schnee unter ihm. Er fasste erneut
nach dem Türgriff. Diesmal ließ sich die Tür problemlos öffnen.
Die Luft roch nach Blut und Gewalt, nach Schweiß und abgestandenen Zigaretten. Sie schlug ihm wie dunkler Rauch nach einem Feuer entgegen. Er hielt einen Augenblick lang den Atem an, denn neben diesem Geruch nahm er auch noch den verbrannten und bitteren Gestank von perverser Lust und Bösartigkeit wahr – wie von Kohlen, die noch in einem Hügel Asche vor sich hin schmorten.
Lucien lauschte dem gleichmäßigen, schläfrigen Schlagen von Dantes Herz. Das Geräusch beruhigte ihn. Ich habe meinen Sohn gefunden. Er stieg in den Van, schob den Vorhang beiseite und kletterte nach hinten, wobei er aufpasste, dass die schwache Wintersonne sein Kind nicht berührte.
Er betrachtete den im Schlaf liegenden Dante auf dem Boden des Wagens. Ein Schrei, als verbrenne er im Sonnenlicht, die Qualen eines Kindes – seines Kindes –, hallten in Dantes Traumsplittern wider. Sie erinnerten Lucien an das, was er gespürt … was er gehört hatte, während er mit Agent Wallace in der Küche gewesen war.
Chloe. Meine Prinzessin. Mein Ein und Alles.
Ich werde nicht zulassen, dass sie dir etwas tun.
Lucien kniete nieder und nahm seinen Sohn in die Arme. Dante strahlte eine solche Hitze aus, dass sie sofort auf ihn überstrahlte. Hitze, wo er eigentlich vom Schlaf kühl hätte sein müssen. Blut lief aus seiner Nase und benetzte seine Lippen.
Ach, mein Kleiner, sie haben sie weggenommen. Du hättest nichts tun können. Nichts. Du warst doch auch nur ein Kind.
Lucien strich Dante das Haar aus dem Gesicht und berührte die kühlen Silberringe in seinen Ohren.
Seine Vergangenheit verschlingt ihn.
Lucien senkte den Blick. Sein Herz verkrampfte sich, als er die Schnitte in seinem T-Shirt anstarrte. Er roch Blut – Dantes. Behutsam schob er den Stoff hoch. Zahllose Wunden, die bereits verheilten, übersäten Brust und Bauch. Schnitte. Stiche. Messerwunden.
Gehören Klingen zur üblichen Ausrüstung eines journalistischen Assistenten?
Endlich wandte Lucien seine Aufmerksamkeit dem schlafenden Sterblichen zu, der gefesselt im hinteren Teil des Fahrzeuges lag und schlief. Er hatte einen geschundenen, zerbissenen Hals, ein Arm hing in einer Schlinge, die Finger waren blau angeschwollen. Eine Klinge steckte bis zum Anschlag in seinem Schenkel. Luciens Blick wanderte zu dem Jungen in seinen Armen zurück, verweilte dort einen Moment lang und wandte sich dann wieder Jordan zu.
Neben Jordan lag eine Matratze, die über und über mit Blut besudelt war. Dantes Blut. Auch an den Wänden und der Decke des Wagens war Blut. Ein Buch – mit Gedichten? – und einige verstreute Papiere bedeckten den Teppich neben der Luftmatratze.
Lucien erstarrte. Er erkannte die Bilder. Es waren die gleichen, die er sich zusammen mit Wallace angeschaut hatte. Jordan hatte Dante seine Vergangenheit also mit Blut und Messern präsentiert. Ein Sterblicher mit toten Augen.
Dennoch war es Dante irgendwie gelungen, sich zu befreien. Warum war Jordan noch am Leben?
Hatte der Schuft etwa um sein Leben geschachert ? Lucien betrachtete wieder die Papiere mit den Berichten und
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