01 - Schatten der Könige
mir?«
»Nicht laut«, erwiderte Bardow. »Aber es geht ihm gut.«
Sie nickte und entspannte sich ein wenig. »Die Gedanken an ihn halten mich warm, wenn die Nächte am finstersten sind. Ich werde ihn wiedersehen, wenn ich mit dem Kristallauge zurückkehre, das verspreche ich.«
»Tut, was Ihr könnt, mein Kind. Ich bin in Gedanken bei Euch. Gehabt Euch wohl.« Bevor sie etwas erwidern konnte, ließ er den Gedankengesang des Geflügelten Geistes verklingen. Die Elemente in seinem Kopf trieben auseinander, und der dämmrige Gang verschwand, während sein Bewusstsein über Ozeane aus Schatten zurückglitt.
Er holte tief Luft und blinzelte. Die Düfte, die Geräusche und die Erscheinungen der Nacht sprangen ihn förmlich an. Der Baum an seinem Rücken, das nasse Gras unter seiner Hand, die süßlichen, aufgeplatzten Samenkapseln, die Dunkelheit und die leichte, salzige Brise vom Meer … Plötzlich drangen Schreie an sein Ohr. Sie kamen aus der Nähe, und er hörte ein Gewirr von Stimmen und das Knarren von Wagenrädern. Einen Moment glaubte Bardow, das Lager würde angegriffen, doch dann sah er einen von Mazarets Offizieren, Yarram, über den Kamm zum Pfad in der Schlucht laufen. Bardow rief ihn an, während er sich aufrappelte.
»Meister Bardow«, sagte der Ritter und trat auf ihn zu. »Seid Ihr krank?«
»Ich weiß Eure Sorge zu schätzen, Rul, aber mir geht es gut. Ich bin nur gerade von dieser Unruhe aus dem Schlummer gerissen worden. Was ist los?«
»Die Zelte werden abgebaut, Meister. Wir haben erfahren, dass Adranoths Stadtväter alle Boote und ihre Mannschaften bereitstellen. Sie haben uns sogar angeboten, uns mit Vorräten zu versorgen.« Yarram wirkte so verwirrt, wie Bardow sich fühlte. »Was hat ihren Meinungsumschwung ausgelöst?« Yarram rieb sich das Kinn. »Ich weiß es nicht sicher, aber man sagt, dass der Magier Medwin während des Festmahls eine Harfe ergriffen und ein Lied gesungen habe, das derartig von Tapferkeit und Trotz kündete, dass die Stadtväter sich schämten und ihren Widerstand aufgaben. Was auch immer wahr sein mag, uns wurde jedenfalls soeben befohlen, das Lager abzubrechen. Und jetzt, Meister, entschuldigt meine Eile, aber ich muss mich um meine Truppen und die Pferde kümmern.« »Selbstverständlich.«
Yarram verbeugte sich knapp und während er verschwand, lächelte Bardow ironisch. Medwin, der Barde. Wer hätte gedacht, dass er so viele verborgene Talente besaß?
Ihm fiel ein, dass er längst die Magier hätte empfangen sollen, und hastete mit einem Seufzen den Kamm entlang. Wie viel Beruhigungen und Schmeicheleien und Überredungskünste das wohl kosten wird, dachte er griesgrämig.
Dann lachte er. Vielleicht sollte ich ihnen ebenfalls ein Liedchen trällern …
25
Wo die Luft schwarz ist,
Wo der Frost brennt und das Feuer friert,
Wo die Wände von Schreien gespalten sind,
Wo der-Hass von Fängen und Klauen tropft.
DIE HÖHLE DER UNGEHEUER, 2, iv, alte Weise
»Wer bin ich?«
Suviel schwankte unter Nereks Gewicht, als die Beine der Kriegerin unter ihr nachgaben. Sie beherrschte ihre eigene Verzweiflung und schleppte Nerek zu der Wand, wo sie das Spiegelkind sanft absetzte.
»Bitte, sag es mir … Wer bin ich?«
In dem Dämmerlicht auf der Galerie konnte Suviel das Gesicht ihrer Gefährtin nicht genau erkennen, aber sie ahnte, dass sich ihre Züge erneut verzerrten und veränderten. Sie war bereits Zeugin einiger dieser Metamorphosen geworden, bei denen die beiden Persönlichkeiten, die in diesem Körper eingeschlossen waren, um die Vorherrschaft kämpften, und Suviel war beinahe froh um die sie umgebende Dunkelheit.
Seit sie vor etwas mehr als einer Stunde mit Bardow gesprochen hatte, ließ sie der Gedanke an das Kristallauge nicht mehr los. Sie ging ruhelos umher und suchte nach einem Weg durch diese zerstörten Galerien. Aus ihren Erinnerungen wusste sie, dass einige dieser Gänge zu anderen Seminaren führten, zum Beispiel zum Kreuzgang der Gesänge, einer Geschichtsschule, dem Debattiersaal, und dann weiter direkt in die Erhabene Basilika.
Ich brauche nur einen Weg durch dieses Labyrinth zu finden, sagte sie sich, ohne den Akolythen oder ihren Dienern in die Falle zu gehen und ohne ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Dann muss ich nur noch in die Erhabene Basilika schleichen und unbemerkt das Kristallauge entwenden. Ach ja, und dabei Nerek zu beschützen.
Sie rieb sich die brennenden Augen. Es war ein verrücktes, hoffnungsloses Vorhaben, aber besser als gar
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