01-Unsterblich wie die Nacht-redigiert-25.10.12
Angelica.«
»Da wissen Sie mehr über mich als ich über Sie.«
»Alexander.«
Sie hatte ihn schon rügen wollen, weil er sie duzte, und nun auch noch das. Er schien nicht viel von Konventionen zu halten. Angelica antwortete nicht, wusste nicht, wie sie sich in der nervenaufreibenden Gegenwart dieses Mannes verhalten sollte. Er war hier. Er war wie sie, und sie hatte panische Angst, er könnte wieder verschwinden, ohne dass sie ihm wenigstens ein paar der Fragen gestellt hatte, die sie plagten, seit sie denken konnte.
»Woher kennen Sie meinen Bruder?« Eine legitime Frage, obwohl es ihr im Moment gewiss nicht um solche Kleinigkeiten ging. Da stand er vor ihr, vollkommen unerschütterlich. Wie konnte er so ruhig sein, wo er doch unter derselben Behinderung litt wie sie?
Er ging nicht auf ihre Frage ein, sagte stattdessen: »Er ist kein Gedankenleser?«
»Nein.« Angelica wurde zunehmend verwirrter. Dass er hier war, in ihrem Garten, diese unkonventionelle Unterhaltung … es kam ihr vor wie ein Traum. Er machte eine Bewegung, als wollte er gehen. Wer war er? Hörte er die Stimmen nur, wenn er nervös oder aufgeregt war? Seit wann konnte er sie hören? Wurde es mit der Zeit besser? Oder schlimmer? Aber bevor sie entscheiden konnte, was sie ihn zuerst fragen sollte, sprach er.
»Du bist die Einzige von euch, die diese Fähigkeit hat?«
»Diesen Fluch? Ja.«
»Wohl kaum ein Fluch!«
Sie wollte eben etwas Schnippisches darauf sagen, als ihr plötzlich klar wurde, dass sie seine Gedanken nicht hören konnte. Dabei war sie so aufgeregt und nervös, dass ihr das Herz bis zum Hals schlug. Auch gestern Abend hatte sie nichts mehr gehört, nachdem er sich von ihr abgewandt hatte. Nicht von ihm , jedenfalls.
»Wie kommt es, dass ich Ihre Gedanken nicht hören kann?«
Alexander musterte sie verwirrt. »Weil ich dich nicht lasse.«
»Aber … aber was soll das heißen?«
»Ich blocke dich ab.«
Dass er dies in einem Ton sagte, als würde er sie für ein geistig minderbemitteltes Kind halten, beschloss Angelica großzügig zu übergehen. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, ihren Puls unter Kontrolle zu bringen.
»Man kann Gedanken abblocken?«
Kaum war die Frage heraus, bereute sie Angelica auch schon. Denn falls es doch nicht möglich war, dann wollte sie es lieber gar nicht wissen. Der Gedanke, bis an ihr Lebensende mit diesen Stimmen leben zu müssen, war schlimm genug. Lieber im Ungewissen leben, aber mit der Hoffnung, sie eines Tages doch noch abblocken zu können.
»Soll das heißen, du weißt nicht, wie man Gedanken abblockt?«
Alexander sah sie ungläubig an. Aber als Angelica nichts darauf sagte, verengten sich seine Augen. »Unmöglich. Das hält keiner aus.«
Angelica holte tief Luft, versuchte ruhig zu bleiben. Bedeutete das, er wusste wie? Ob er es ihr beibringen konnte?
»Zeig mir wie. Bitte.«
Es war die wichtigste Bitte, die sie je an jemanden gerichtet hatte. Alles andere war unwichtig. Es kam ihr nicht in den Sinn, ihn zu fragen, was er hier machte, wie er sie gefunden hatte. Woher er ihren Bruder kannte. Sie dachte an nichts anderes als an diese Bitte. Wenn sie es nur erlernen könnte … wenn sie die Stimmen ausschalten könnte. Mein Gott, das wäre …
Angelica ließ Alexander nicht aus den Augen. Ein Ausdruck der Überraschung huschte über sein Gesicht, dann wurde seine Miene undurchdringlich wie zuvor.
»Was würdest du mir dafür geben?«
»Alles«, antwortete sie ohne Zögern.
Er nickte und schien kurz zu überlegen.
Dann begann er.
»Ich werde jetzt in deine Gedanken eindringen und eine Kindheitserinnerung extrahieren. Versuche mich aufzuhalten.«
Angelica hatte das Gefühl, als würde ihr jemand ganz sanft das Gehirn zusammendrücken. Sie riss erschrocken die Augen auf. Ihr kam der Gedanke, dass andere das wohl nicht spürten, oder sie würden irgendwie reagieren, wenn sie ihre Gedanken las … sich umschauen oder wenigstens über Kopfschmerzen klagen. Zumindest Mikhail müsste dann inzwischen gelernt haben zu spüren, wann sie seine Gedanken las.
Plötzlich stieg eine Erinnerung an ihren Vater in ihr auf; er hielt sie bei der Hand und ging mit ihr zu den Ställen. Alexander sah es auch, das wusste sie. Er sah ihre Erinnerungen, ihre Vergangenheit.
Mit einem Mal fühlte sich Angelica unbehaglich. Sie wollte nicht, dass ein Fremder in ihren Erinnerungen herumstöberte. Sie wollte ihn von dort vertreiben, wusste aber nicht wie.
Denk an eine Mauer. Errichte eine
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