01-Unsterblich wie die Nacht-redigiert-25.10.12
Mauer um deine Gedanken.
Alexanders Stimme war klar und deutlich, wahrscheinlich, weil er ihr so nahe war. Sie schaute ihn an. Auf einmal wurde ihr bewusst, dass man sie von der Straße aus sehen konnte - und was für ein seltsames Bild sie abgeben mussten. Sie standen einander gegenüber, sprachen nicht, berührten sich nicht und schauten sich nur an.
Aber das durfte sie jetzt nicht stören. Sie musste sich auf das konzentrieren, was Alexander gesagt hatte.
Sie dachte an eine Mauer, an Steine, Ziegel, aber es funktionierte nicht.
Alexander drang tiefer in ihre Gedanken ein. Sie sah sich in Mikhails Zimmer stehen. Er war sechs und sie kaum älter. Er weinte, und sie tröstete ihn.
Nein! Sie wollte ihn nicht mehr in ihrem Kopf haben!
Sag mir wie, es geht nicht, ich kann dich nicht abblocken!
Denk an einen schönen Ort, an dem du dich sicher fühlst. Und dann errichte deine Mauer.
Angelica stellte sich die Wälder um Polchester Hall vor. Die Vögel zwitscherten, die Blumen blühten, alles war still und friedlich. Sie konzentrierte sich auf die Bäume, begann die Zwischenräume mit Ziegeln auszufüllen.
Mit jedem Ziegel, den sie hinzufügte, fühlte sie sich sicherer, selbstbewusster. Schneller und immer schneller begann ihre Mauer zu wachsen, bis hinauf zu den Baumkronen.
Dann war sie fertig. Sie stand dort, wie in einem stillen, weiten Brunnen. Ihre Angst, ihre Nervosität waren verschwunden.
Sie schlug die Augen auf und schaute Alexander an. Er blickte sie ebenfalls an, ein seltsames Leuchten in den Augen. Sie hatte ihn aus ihrem Kopf vertrieben.
Was für ein Sieg, was für ein Triumph!
»Angelica?«
Mikhail war vors Haus getreten und schaute besorgt zu ihr hin. Da entdeckte er Alexander.
»Alexander! Da bist du ja! Ich hatte mich schon gefragt, wo du bleibst. Und meine Schwester hast du also auch schon kennen gelernt, was?«
»Ja, ich hatte das Vergnügen.«
Alexanders Blick war nicht von Angelicas Gesicht gewichen. Und da traf es sie wie ein Keulenschlag: Sie konnte seine Gedanken nicht hören, aber vor allem konnte sie auch die von Mikhail nicht hören! Ihr Puls raste, ihre Nerven lagen blank, aber sie hörte nichts!
Nichts. Nur herrliche, wohltuende Stille.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Frieden, zum ersten Mal in ihrem Leben.
Sie musste an einen Satz von Oliver Wendell Holmes denken: »›Und Stille umhüllt uns wie Balsam und heilt die Wunden des Lärms.‹« Sie flüsterte die Worte vor sich hin, so leise, dass man sie nicht hören konnte. Ein Schauder überlief sie. Es war zu viel. Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten, still liefen sie ihr über die Wangen und tropften mit einem leisen Geräusch, das in der Stille zu hören war, auf ihr Kleid.
Mikhail sah, dass sie weinte, und eilte sofort zu ihr.
»Angelica, was hast du?« Verwirrt und besorgt musterte er ihr tränennasses Gesicht. »Angel?«
Angelica brachte kein Wort heraus. Wie hätte sie auch erklären sollen, was für ein überwältigendes Geschenk sie soeben erhalten hatte? Als würde sie zum ersten Mal in ihrem Leben sehen, zum ersten Mal atmen können.
Danke. Danke. Danke!
Ein seltsames Gefühl überkam Alexander, als er Angelicas Tränen sah. Mit Sehnsucht und, ja, Neid beobachtete er, wie sich die beiden Geschwister umarmten. Nur selten in seinem langen Leben war ihm solche Zärtlichkeit, eine so bedingungslose Liebe untergekommen. Ärger und Unbehagen stiegen in ihm auf, und er wollte sich gerade abwenden, um still zu gehen, als sich Angelica aus der Umarmung löste und sich hastig die Tränen abwischte.
»Es tut mir schrecklich leid, dass ihr Zeugen meines Gefühlsausbruchs werden musstet«, sagte sie und wandte sich zum Gehen. »Ich wünsche den Herren noch einen schönen Nachmittag.«
Alexander blickte seiner schwarzhaarigen Hexe nach, wie sie im Haus verschwand. Was zum Teufel war da gerade passiert? Er hatte endlich eine Frau kennen gelernt, die ihn nicht mehr losließ, und ihm war klar geworden, was für eine gequälte Seele sie war. Angelica Belanow hätte nach allen Regeln der Wahrscheinlichkeit mittlerweile wahnsinnig sein müssen; dass sie es nicht war, zeigte, wie unglaublich stark ihr Geist sein musste.
Und nun hatte diese Frau gerade gelernt - von ihm gelernt -, ihn abzublocken. Ihn! Er kannte keinen Vampir, der das je zustande gebracht hätte. Aber diese Frau … sie konnte ihn selbst dann abblocken, wenn er bei ihr eindringen wollte . Kein angenehmer Gedanke. Ärgerlich. Aber
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