010 - Skandal in Waverly Hall
lag auf der flachen Hand des Inspektors. Er paßte genau zu den Knöpfen an Dominicks Hemd.
„Sir?" fragte Hopper.
„Ja", stieß Dominick hervor. „Der Knopf gehört mir."
Anne kehrte allein nach Rutherford House zurück. Dominick war von der Polizei zum Gericht im Old Bailey gebracht worden, um formell des Mordes an Matthew Fairhaven angeklagt zu werden.
Sie hatte furchtbare Angst und war kaum eines klaren Gedankens fähig. Die Polizei hatte einen Beweis, der eindeutig gegen Dominick sprach. Außerdem war er von einem Bürger schwer belastet worden. Hatte er Fairhaven ermordet? Was das möglich? Wenn ja, war er gewiß auch kaltblütig genug, um sie aus dem Weg zu schaffen.
Anne wußte sich keinen Rat. Ihr Herz schrie wie wild vor Protest. Nichts von alldem konnte wahr sein. Es war ein entsetzlicher Alptraum.
Sie war nicht sofort nach Hause gefahren. Bevor Dominick von der Polizei abgeführt worden war, hatten sich zahlreiche Gäste im Foyer versammelt. Die furchtbare Nachricht von Fairhavens Ermordung und Dominicks Verhaftung hatte sich wie ein Lauffeuer auf Lord Hardings Ball herumgesprochen. Blake hatte Anne angeboten, sie nach
Hause zu bringen. Doch sie hatte darauf bestanden, daß er unverzüglich Dominicks Anwalt benachrichtigte. Er war schon zu Canfield unterwegs.
Es war zwei Uhr morgens, und Anne war erschöpft. Aber sie war viel zu durcheinander, um jetzt schlafen zu können. Belle, die auf ihre Rückkehr warten sollte, um ihr beim Auskleiden zu helfen, war nirgends aufzutreiben. Caldwell wollte ihr ein Zimmermädchen schicken. Der Butler war ungewöhnlich nervös, denn Anne hatte ihm erzählt, was geschehen war. Sie hatte keine Veranlassung, den Grund von Dominicks Abwesenheit geheimzuhalten.
Sie war sicher, daß sie kein Auge zubekommen würde. Deshalb beschloß sie, bei dem Herzog zu wachen. Im Kamin des Schlafzimmers brannte ein Feuer. Trotzdem zündete sie so viele Kerzen an, daß der Raum in ein heiteres Licht getaucht wurde und der schrecklichen Nacht trotzte. So geräuschlos wie möglich zog sie einen Stuhl an das Bett.
Rutherford lag regungslos da und war weiß wie Wachs. Nur seine Wangen waren ein wenig gerötet. Sie nahm seine Hände - und hatte plötzlich den Eindruck, daß ein Muskel in seinem Gesicht zuckte.
Sie rührte sich nicht und betrachtete ihn aufmerksam. Nein, sie hatte sich geirrt. Der Herzog war immer noch bewußtlos.
„Wir brauchen Ihre Hilfe, Euer Gnaden", sagte sie leise. Wie gern hätte sie Rutherford alles erzählt. Aber was würde geschehen, wenn er sie verstand? Sie durfte ihn auf keinen Fall erschrecken und damit vielleicht seinen Tod besiegeln.
Oder konnte sie ihn mit ihrem Bericht ihn so aufrütteln, daß er wieder erwachte? Es war ein gewaltiges Risiko. „Bitte, Euer Gnaden", rief sie. „Wir stecken in furchtbaren Schwierigkeiten."
Dann schüttete sie ihm ihr ganzes Herz aus.
„Sie haben selber gesagt, daß Sie einen Streit mit Fairhaven hatten."
„Nein. Ich sagte, daß wir uns gestern morgen in seinem Haus unter vier Augen unterhalten haben", erklärte Domi-nick bestimmt.
Er saß in einem kleinen eckigen Raum, der nur trübe von einer Gaslampe beleuchtet wurde. Zwei stämmige Polizisten standen zu seinen beiden Seiten. Außerdem waren Inspektor
Hopper sowie ein weiterer Inspektor namens Gatling anwesend. Gatling war im Gegensatz zu Hopper groß und mager und sah sehr blaß aus. Dominick hatte seine Frackjacke ausgezogen, die Ärmel aufgerollt und den Hemdkragen geöffnet. Volle zwei Stunden verhörte man ihn schon. Es war drei Uhr morgens. Doch er war nicht müde, sondern wütend.
Er war kein Mörder, und er hatte Fairhaven nicht getötet. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wer es gewesen sein könnte. Aber niemand glaubte ihm, nicht einmal Anne. Wehmütig erinnerte er sich an ihr bleiches entsetztes Gesicht.
„Er lügt", erklärte Gatling. Seine Augen waren beinahe schwarz und blickten grausam. „Er folgte Fairhaven nach Covent Garden, zettelte einen Streit an und tötete ihn dabei. Wie hätte sein Manschettenknopf sonst in Fairhavens Hand kommen sollen?" Er lächelte gehässig.
„Ich habe den Manschettenknopf schon vor Wochen verloren. Seit ich in Schottland war, habe ich dieses Paar nicht mehr getragen."
„Aber jemand hat Sie mit Fairhaven gesehen", schnarrte der Inspektor.
„Wer?" fragte Dominick scharf. „Sagen Sie mir, wie der Lügner heißt." Er wollte aufstehen.
„Bleiben Sie sitzen", forderte Gatling ihn auf. Einer der
Weitere Kostenlose Bücher