010 - Skandal in Waverly Hall
gewesen war.
„Ich weiß es nicht, Mylady." Caldwells Lächeln erstarb.
Anne stutzte plötzlich. Hier stimmte etwas nicht. Belle war normalerweise äußerst zuverlässig. Energisch schob sie ihre Befürchtungen beiseite. Sie hatte jetzt andere Sorgen und konnte sich nicht um Beiles seltsame Abwesenheit kümmern, so gern sie die Zofe auch hatte. „Ich glaube, Sie sollten nach ihr suchen lassen, Caldwell", sagte sie und lief den Korridor hinab.
„Das habe ich bereits veranlaßt", antwortete er und folgte ihr auf den Fersen.
„Niemand hat Belle das Haus verlassen sehen. Ich verstehe das nicht."
Wie war so etwas möglich? Inständig hoffte Anne, daß der Zofe nichts passiert war.
Sie eilte weiter und hatte plötzlich den Eindruck, daß sie eine leise Männerstimme hörte. Verblüfft blieb sie stehen.
Caldwell stieß beinahe mit ihr zusammen. „Mylady?"
„Haben Sie das auch gehört?"
„Nein, was denn?"
Anne sah den Butler an und runzelte die Stirn. Sie hatte sich die fremde Stimme gewiß nicht eingebildet. Besorgt blickte sie zu der nächsten Tür. „Haben wir Gäste im Haus?"
„Nein."
„Wer ist dann diesem Raum?" fragte sie.
„Da ist niemand", antwortete Caldwell.
Anne hörte erneut ein Geräusch. Diesmal war es keine Stimme, sondern ein Schaben, als würde etwas über den Boden gezogen. Zögernd trat sie näher. Sie war nicht sicher, was sie vorfinden würde, wenn sie die Tür jetzt öffnete. Ihr Puls raste wie wild, und sie legte die Hand auf den Griff.
Im diesem Moment lachte eine Frau, und Anne schob die Tür auf.
Belle stieß einen Schrei aus und preßte ihr schwarzes Kleid an die Brust.
Anne sah die Zofe entsetzt an, die nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet war. Dann glitt ihr Blick zu dem Mann, der auf der Bettkante saß, und ihr stockte der Atem.
Patrick blickte ihr ruhig entgegen. Er trug nichts als eine schwarze Frackhose - dieselbe wie gestern auf dem Ball bei Lord Harding.
Anne bekam keinen Ton heraus.
Belle eilte zu ihr und hielt ihr Kleid wie einen Schild vor sich. Das lange rote Haar umrahmte ihr Gesicht in wirren Strähnen. „Bitte, Mylady. O bitte. Es tut mir furchtbar leid."
Anne betrachtete die Zofe schweigend.
Belle sank auf die Knie. „O Madam, ich wollte nichts Schlechtes tun. Bestimmt nicht!" schluchzte sie.
Anne atmete tief durch und sah erneut zu Patrick hinüber. Er war inzwischen aufgestanden und griff nach seinem weißen Hemd. Es schien ihm nichts auszumachen, daß sie ihn in einer äußerst verfänglichen Situation mit der Zofe ertappt hatte.
„Wie konntest du nur", flüsterte sie. Ihre Worte waren nicht für Belle bestimmt, sondern für den Vetter.
Er zuckte unbekümmert mit den Schultern. „Ich bin ein Mann, Anne."
„Madam!" Belle war immer noch auf den Knien und klammerte sich weinend an ihre Röcke." „Ich weiß, daß es falsch war, entsetzlich falsch sogar. Und es tut mir leid.
Bitte, verzeihen Sie mir!"
Caldwell trat an Annes Seite. „Steh auf und rühre Ihre Ladyschaft nicht an", erklärte er verärgert. „Du bist entlassen. Ich werde dafür sorgen, daß du alles Geld erhältst, das dir noch zusteht."
Belle schrie leise auf.
„Nein!" Anne holte tief Luft und sah Patrick fest an. Er blickte beinahe befriedigt drein. „Wie lange geht das schon?"
Patrick lächelte vielsagend.
„Noch nicht lange!" kreischte Belle. „Erst seit ein paar Wochen, seit der Beerdigung Seiner Lordschaft. Länger nicht."
Seit Philips Beerdigung - und Dominicks Rückkehr. Anne tat die junge Französin leid.
„Hat er dir die Ehe versprochen?"
„O nein", antwortete Belle. „Selbst wenn er es getan hätte, wäre ich nicht so dumm gewesen, zu glauben, daß ein hoher Gentleman sich herablassen und mich heiraten könnte."
„Weshalb dann, Belle?" fragte Anne betrübt. Sie mochte das junge Mädchen sehr und verstand das Ganze nicht.
Belle begann wieder zu weinen. „Ich war einsam, Madam."
Anne hätte am liebsten mitgeheult. Sie nahm Beiles Hand und zog die Zofe auf die Füße. „Du wirst deine Arbeit nicht verlieren", versprach sie. „Dafür bedeutest du mir zuviel. Aber was du getan hast, war nicht richtig. Es ist falsch, sich außerhalb der Ehe einem Mann hinzugeben, und es ist erst recht nicht richtig, im Haus seiner Herrschaft mit einem Gentleman anzubändeln."
„Ja, ich weiß! O danke!" Belle sah aus, als wäre sie ihrer Herrin am liebsten um den Hals gefallen. Anne lächelte und umarmte sie freundschaftlich. Die Zofe klammerte sich einen Moment
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