010 - Skandal in Waverly Hall
ihr. Sie folgte seinem Blick und stellte fest, daß er zu seinem Nachttisch sah. „Möchten Sie etwas haben, Euer Gnaden?" fragte sie freundlich.
Sein Blick kehrte zu ihr zurück, und er blinzelte einmal. Offensichtlich wollte er ihr etwas mitteilen.
Anne sah erneut zu dem Tisch und entdeckte einen Federkiel. „Können Sie schreiben?" fragte sie aufgeregt.
Er zwinkerte zweimal.
Anne sank mutlos zusammen.
„Ich weiß nicht, was du von Rutherford erwartest", murmelte Patrick. „Im Moment ist er wohl kaum in der Lage, Dominick zu helfen."
Anne erstarrte unwillkürlich. Der Herzog warf Patrick einen finsteren Blick zu und sah erneut zu dem Federkiel.
Plötzlich hatte Anne eine Idee. „Ich könnte für Sie schreiben, Euer Gnaden", sagte sie. Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. „Ich sage das Alphabet auf, und Sie blinzeln einmal, wenn ich den richtigen Buchstaben erreicht habe. So können Sie mir alles diktieren, was Sie sagen möchten!"
Der Herzog blinzelte einmal. Er schien ebenfalls sehr erregt zu sein.
Anne strahlte ihn an. Kurz darauf saß sie mit einem Blatt Papier, einer Feder und einem Tintenfaß wieder an seinem Bett. Patrick war an ihre Seite getreten. Sie hatte beschlossen, ihn einfach nicht zu beachten.
Es war eine mühselige Arbeit. Nach zwanzig Minuten hatte sie zwölf Buchstaben notiert: das Wort „Schreibtisch".
„Im Schreibtisch sind wichtige Papiere!" rief Anne und sprang auf.
Der Herzog blinzelte erneut.
Anne küßte ihn auf die Stirn und flüsterte: „Gebe der Himmel, daß sie Dominick retten."
Eine Stunde später war Anne so entmutigt, daß sie am liebsten aufgegeben hätte.
Caldwell, Belle und sie hatten jedes Blatt Papier im Schreibtisch des Herzogs durchgesehen. Selbst Patrick, der sich weigerte, das Haus zu verlassen, hatte halbherzig mitgeholfen. Es gab Dutzende von Akten und Ordnern und Hunderte von Notizen, Briefen, Mitteilungen und Verträgen. Doch nichts hatte mit Dominicks gegenwärtigen Schwierigkeiten zu tun.
„Vielleicht hat der Herzog an etwas anderes gedacht als ich", sagte Anne niedergeschlagen. Sie saß auf dem Boden und war von zahlreichen geöffneten Ordnern und Papierstapeln umgeben.
Caldwell und Belle hatten ebenfalls Akten auf den Knien. „Oder es ist uns etwas entgangen", sagte der Butler verzweifelt.
Patrick lehnte mit der Hüfte an dem massiven Schreibtisch aus dem siebzehnten Jahrhundert. Er hatte von vornherein bezweifelt, daß sie Erfolg haben würden. Anne hatte gehofft, daß er die Suche bald leid werden und gehen würde. Aber er war geblieben. „Ihr seid allesamt verrückt", erklärte er plötzlich. „Und Rutherford ebenfalls. Ich gehe nach Hause."
Belle hatte ihn die ganze Zeit nicht beachtet. Jetzt wandte sie sich ungewöhnlich schüchtern an Anne. „Mylady, haben die großen Lords nicht Geheimfächer in ihren Schreibtischen?"
Anne richtete sich auf, und Caldwell war ebenfalls sofort hellwach. „Ein Geheimfach!" riefen sie beide wie aus einem Mund.
Anne sprang auf. Bei Caldwell dauerte es etwas länger. Belle war schon auf den Füßen.
Patrick blieb wie angewurzelt stehen.
Sie zogen jede Schublade heraus und drehten sie um. Sie prüften jede Falz, klopften auf jeden Boden und suchten die Seiten wände ab. Anne wurde immer verzweifelter. Es schien kein Geheimfach zu geben.
„Lassen Sie uns erst einmal frühstücken Mylady", schlug der Butler vor.
„Nein", sagte Anne. „Vielleicht müssen wir anderswo suchen." Nachdenklich betrachtete sie den wuchtigen Schreibtisch. Es war aus Rosenholz und seit mehr als zweihundert Jahren in der Familie. Das hatte der Herzog ihr einmal erzählt.
Außerdem war er mit seinen Intarsien und den vergoldeten Beinen ein wertvolles Stück. Trotzdem sie zögerte nur einen Moment. „Holen Sie eine Axt", forderte sie den Butler auf.
Caldwell sah sie verblüfft an. „Wie bitte, Mylady?"
„Holen Sie eine Axt und den kräftigsten Diener", wiederholte sie.
Caldwell nickte und verließ den Raum.
„Du bist verrückt, Anne", stellte Patrick fest. „Du wirst bestimmt nichts finden."
„Du willst Dominick gar nicht helfen, nicht wahr?" fragte Anne. Ihr wurde ganz elend bei den eigenen Worten.
„Weshalb sollte ich?" fuhr er sie an. „Und weshalb solltest du es tun - wenn er ein Mörder ist?"
Anne schluckte trocken. Sie war so mit ihren Nachforschungen beschäftigt gewesen, daß sie keine Zeit für Zweifel und Befürchtungen gehabt hatte. Außerdem war sie entschlossen, immer nur das Beste
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