010 - Skandal in Waverly Hall
vermacht. Ich bin die alleinige Nutznießerin."
Dominick sah sie ungläubig an. „So etwas habe ich noch nie gehört. Das ist absurd.
Waverly Hall war im Besitz meines Vaters. Wer sollte solch ein Vermächtnis aufgestellt und dir, meiner Frau, das Haus überlassen haben? Das glaube ich einfach nicht."
„Rutherford hat es getan", antwortete Anne heiser.
Dominicks Augen blitzten plötzlich, und er richtete sich hoch auf. „Rutherford!"
Besorgt wich sie einen Schritt zurück. „Ja."
Dominicks Miene veränderte sich. Offensichtlich haderte er innerlich mit dem, was sie ihm gerade erzählt hatte. Dann sah er sie an, als wäre sie verantwortlich für Rutherfords Schritt - und als würde er sie am liebsten erwürgen.
Anne spürte seinen wachsenden Zorn. „Ich... ich war ebenso überrascht wie du", sagte sie schnell. „Rutherford hat es mir erst gestern abend erzählt. Sieh mich nicht so an, Dominick. Du machst mir angst."
Er blickte sie weiter unbarmherzig an.
Dominick war furchtbar wütend.
Das durfte nicht wahr sein!
Er war Philips einziger lebender Nachkomme, und Waverly Hall war das einzige persönliche Erbe, das sein Vater hinterlassen hatte. Es spielte keine Rolle, daß mehrere Herrenhäuser zu seinem Besitz als Viscount gehörten und ein Gut sogar größer und ertragreicher war als Waverly Hall. Um das Vermögen ging es ihm nicht.
Das Haus seines Vaters stand ihm durch Geburt zu.
Dominick eilte den breiten Korridor entlang. Sein Weg führte ihn nicht zum Blauen Salon, in dem die Trauergäste bis vor kurzem gegessen, getrunken und über alles geredet hatten, nur nicht über den Toten, der heute zu Grabe getragen worden war.
Er lief weiter nach hinten. Die Tür zur Bibliothek war nur angelehnt. Dominick blieb einen Moment davor stehen.
Philip war ein gebildeter Mann gewesen und hatte sich hier am liebsten aufgehalten, wenn er in Waverly Hall war. Er, Dominick, hatte diesen Raum immer gemieden. Als Junge hatte er seinem Vater hier täglich Bericht erstatten müssen, und Philip hatte ihn über alle möglichen Wissensgebieten befragt. Dominick war ein fauler Schüler gewesen. Deshalb hatte er die Fragen selten beantworten können und seinen Vater normalerweise nicht zufriedengestellt. Philip St. Georges hatte nie einen Hehl daraus gemacht, daß er seinen Sohn für einen Versager hielt.
Wütend und verletzt hatte Dominick seine Studien noch stärker vernachlässigt.
Allerdings hatte Philip ihn nie bestraft.
Während Dominick draußen vor der Tür der Bibliothek seines Vaters stand, fühlte er sich beinahe wie als acht- oder neunjähriger Junge. Einen Moment hatte er den Eindruck, Philip wäre bei ihm auf dem Korridor. Das Gefühl war so stark, daß seine Nackenhaare unangenehm zu prickeln begannen. Energisch schüttelte er die unsinnigen Phantasien ab. Philip lag eineinhalb Meter tief in der Erde, und er, Dominick, glaubte nicht an Geister.
Entschlossen schob er die Tür auf.
Jemand war in der Bibliothek, aber nicht sein Vater. Der Duke of Rutherford saß in dem großen weinroten Ledersessel hinter dem schweren Mahagonischreibtisch auf der anderen Seite des Raumes. Kostbare Perserteppiche bedeckten den Boden. Ein Sofa und zwei Sessel standen vor dem Kamin, der jetzt kalt war, und Hunderte von Büchern reihten sich in den verglasten Schränken.
Dominick sah den Herzog eindringlich an. Wie hinfällig der Großvater geworden war.
Früher war Rutherford das Alter nicht anzumerken gewesen. Heute ließen sich seine vierundsiebzig Jahre nicht mehr leugnen. Seine Augen waren rot und geschwollen.
Dominick erinnerte sich, wie er am Grab geweint hatte. Zu seinem Entsetzen wurde sein eigener Blick plötzlich ebenfalls verschwommen. Ein unendliches Verlustgefühl erfaßte ihn. Er hatte seinen Vater nie richtig gekannt, und nun war es zu spät, Versäumtes nachzuholen.
...Rutherford stand auf und kam um den Schreibtisch herum. Er war ein schlanker Mann und beinahe einsachtzig groß. Sein Haar war einmal so goldbraun wie das aller Männer der St. Georges' gewesen. Es war immer noch dicht, aber jetzt schlohweiß. Eindringlich sah er seinen Enkel an.
„Guten Abend, Großvater", sagte Dominick.
Einen Moment sah es aus, als wollte Rutherford ihn umarmen. Statt dessen reichte er ihm sein Glas. Seine Hand zitterte ein wenig. „Hier, trink das."
Dominick nahm den Schwenker und stürzte den Inhalt in einem Zug hinunter. Die brennende Flüssigkeit tat ihm gut -auch die nachfolgende Benommenheit. „Ist alles
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