010 - Skandal in Waverly Hall
überquerte die Kieseinfahrt.
Er hörte ihre Stimmen, bevor er die beiden sah. Sie sprachen leise und vertraut und kamen aus dem Irrgarten. Im ersten Moment erkannte er Patrick nicht. Er sah nur, daß ein Mann den Arm um Annes Schultern gelegt hatte und daß seine Hüften ihre Röcke beim Gehen streiften. Anne schien sich in seiner Gegenwart so wohl zu fühlen wie eine Frau bei ihrem langjährigen Liebhaber.
Dominick war entsetzt, und das Blut begann in seinen Schläfen zu pochen.
Offensichtlich war Anne die vergangenen vier Jahre seinetwegen nicht vor Gram vergangen.
In diesem Augenblick erkannte er den Freund seiner Kindertage: Patrick.
6. KAPITEL
Dominick starrte Patrick verblüfft an. Plötzlich fiel ihm ein, daß die beiden beinahe den ganzen Nachmittag im Salon zusammengewesen waren. Anne und Patrick? Das konnte nicht wahr sein!
Patrick ließ den Arm von ihrer Schulter gleiten. Anne blickte von Dominick zu Patrick und wieder zurück. „Guten Abend, Dominick. Hast du mich gesucht?" fragte sie unsicher.
Dominick antwortete nicht sofort. Er versuchte, vernünftig zu sein. Im Grunde ist Anne gar nicht meine Ehefrau, redete er sich ein. Doch es klappte nicht. Deshalb sah er Patrick lächelnd an und fragte: „Nun, hast du den Spaziergang mit meiner Frau genossen?"
Patrick richtete sich hoch auf. „Wenn du es genau wissen willst: ja."
„Das freut mich", antwortete Dominick sehr leise. „Denn es war dein letzter Spaziergang mit ihr - oder was auch immer."
Anne hielt erschrocken die Luft an.
„Ist das eine Drohung?" fragte Patrick kühl.
„Nein, es ist eine Tatsache."
„Du bist ja verrückt", stellte Patrick fest. „Anne ist nicht meine Freundin, sondern meine Cousine. Du kannst uns nicht daran hindern, gemeinsam einen Spaziergang zu machen, wenn wir Lust dazu haben."
„Und ob ich das kann."
„Hört sofort auf, alle beide!" rief Anne. „Was ist in dich gefahren, Dominick? Patrick und ich kennen uns, seit ich als kleines Mädchen zu den Collins' kam.
Selbstverständlich können wir gemeinsam Spazierengehen."
„Nein, Anne. Von nun an kannst du es nicht mehr", erklärte Dominick kühl.
„Du hast wirklich den Verstand verloren", sagte Patrick verärgert.
„Was wirfst du uns eigentlich vor?" fragte Anne hitzig.
Dominick sah sie nicht an. Er hatte nur Augen für Patrick. „Du weißt genau, was ich dir vorwerfe", antwortete er.
„Meinst du nicht, es ist ein bißchen spät für dich, den Ehemann herauszukehren?"
fragte Patrick bissig. „Wärst du die letzten vier Jahre hiergewesen, hätte Anne meine Freundschaft wahrscheinlich nicht so dringend gebraucht."
Dominick trat einige Schritte vor und schob sich zwischen Anne und Patrick. Am liebsten hätte er dem Freund die Faust ins Gesicht geschlagen. Immer wieder stellte er sich vor, wie Anne in Patricks Armen lag. Das Bild gefiel ihm ganz und gar nicht.
„Wie dringend hat sie deine sogenannte Freundschaft denn gebraucht?" fragte er kühl. „Und wie bereitwillig hast du sie ihr gegeben?"
„Du benimmst dich wie ein Narr, Dominick!" Rote Flecken bildeten sich auf Annes Wangen. „Diese ... diese Unterhaltung ist unter aller Würde. Patrick ist mein Vetter."
Ihr Gesicht rötete sich immer stärker. „Sonst nichts!"
Dominick sah sie scharf an. „Schweig und halt dich aus der Sache heraus. Dies geht nur Patrick und mich etwas an. Mit dir rede ich später."
Anne riß erschrocken die Augen auf.
Dominick wandte sich wieder dem jungen Mann zu. „Ich dachte, du wärst mein Freund."
Patrick knirschte mit den Zähnen. „Ich bin dein Freund. Aber Anne ist mir ebenfalls eine gute Freundin."
„Das ist unübersehbar."
„Du hattest sie verlassen, Dominick. Solch eine Behandlung hatte sie nicht verdient."
„Wir reden nicht über die Vergangenheit, sondern über die Gegenwart - und die Zukunft." Ein Muskel zuckte in Domi-nicks Wange, und ein Stich fuhr ihm durch die Brust. „Ich habe dir einmal das Leben gerettet. Hast du das vergessen?"
„Wie sollte ich vergessen haben, daß du mich unter Einsatz des eigenen Lebens vor dem Ertrinken bewahrt hast?" antwortete Patrick barsch.
Anne blickte erstaunt von einem zum anderen. „Dominick hat dir das Leben gerettet? Davon hast du mir nie etwas erzählt."
Die beiden Männer gingen nicht auf ihre Bemerkung ein.
„Du kennst keine Dankbarkeit", stellte Dominick fest. „Deshalb hast du das Recht auf meine Gastfreundschaft verwirkt. Ich glaube, du solltest jetzt gehen."
Patrick starrte ihn
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