010 - Skandal in Waverly Hall
Das war die einzig mögliche Erklärung, denn die Fenster waren geschlossen gewesen. Das hatte sie nachgeprüft. Ein starker Windstoß konnte nicht die Ursache sein.
Energisch verdrängte Anne die Erinnerung an das Feuer. Sie hatte jetzt Wichtigeres zu tun. Philips plötzlicher Tod hatte ihre täglichen Pflichten unterbrochen, und sie mußte etliche Rechnungen nachtragen.
Sie blickte auf die Ziffern im Hauptbuch, das vor ihr auf dem Schreibtisch lag. Doch es nützte nichts. Sie konnte die Ziffern heute nicht korrekt addieren, multiplizieren oder dividieren. Mit einem leisen, nicht gerade damenhaften Fluch auf den Lippen schob sie das Rechnungsbuch beiseite.
Jemand klopfte an die Bürotür. Im ersten Moment fürchtete Anne, es wäre Dominick. „Herein", sagte sie gepreßt.
Felicity betrat das Zimmer.
Anne erstarrte unwillkürlich. Die Cousine hatte sie wirklich nicht erwartet. Felicity hatte sie weder bei der Trauerfeier noch am Grab oder später zu Hause begrüßt. Sie hatten seit vier Jahren nicht miteinander gesprochen - nicht seit jenem entsetzlichen Abend, als Dominick und sie im Garten in einer höchst verfänglichen Situation ertappt und von ihren Familien getrennt worden waren.
Aber das war lange her, und seitdem war viel geschehen. Sie, Anne, hatte Dominick geheiratet, war von ihrem Ehemann wieder verlassen worden und hatte vier Jahre lang allein zurechtkommen müssen. Felicity hatte ebenfalls geheiratet und war seit kurzem verwitwet.
Plötzlich schöpfte Anne neue Hoffnung. Inständig wünschte sie, die Cousine würde die Vergangenheit begraben und die alte Kinderfreundschaft Wiederaufleben lassen, die sie einmal verbunden hatte. Gerade jetzt konnte sie eine Freundin gut gebrauchen.
„Guten Tag, Anne", sagte Felicity.
An dem Tonfall und der Miene der Cousine erkannte Anne, daß ihre Hoffnung vergeblich war. „Guten Tag, Felicity", antwortete sie. „Das ist ja eine Überraschung."
„Das nehme ich an." Felicity zog ihre Handschuhe nicht aus. Sie trug ein dunkelrotes Kleid, das abends wahrscheinlich entzückend aussah, bei Tageslicht aber zu grell war. Doch sie war so blond und auffallend schön wie eh und je. Unwillkürlich empfand Anne einen kleinen schmerzlichen Stich in der Brust, als sie sich mit der Cousine verglich.
„Ehrlich gesagt, ich wollte Dominick sprechen. Weißt du, wo er steckt?" fragte Felicity ziemlich herablassend.
Anne stand langsam auf, kam aber nicht um dem Schreibtisch herum. „Was willst du von meinem Mann?" hörte sie sich fragen und errötete bei den eigenen Worten.
Felicity zuckte achtlos mit den Schultern. „Wir sind alte Freunde. Vielleicht möchte ich die Erinnerungen auffrischen."
Alle Alarmsirenen schrillten in Annes Kopf. Als alte Freunde konnte man Felicity und Dominick wirklich nicht bezeichnen. Felicity war eine verlassene Braut gewesen -und war jetzt eine sehr schöne junge Witwe. Es schickte sich nicht, daß sie den Ehemann einer anderen Frau allein aufsuchte. Und es schickte sich erst recht nicht, daß sie Dominick sprechen wollte. Sie bemerkte den Glanz in Felicitys türkisgrünen Augen.
„Dominick ist außer Haus", erklärte Anne etwas zu scharf.
„Tatsächlich? Hast du ihn auch diesmal so schnell wieder verjagt?"
„Das war nicht sehr nett von dir, liebe Cousine."
Felicity lächelte ein wenig. Eigentlich entblößte sie nur die Zähne. Die beiden vorderen standen ein wenig vor. „Meinst du? Wenn ich mich recht entsinne, warst du auch nicht sehr nett, als du Dominick am Vorabend unserer Hochzeit in den Garten locktest!"
Anne begann zu schwitzen. „Ich habe schon einmal gesagt, daß es mir leid tut, Felicity. Und ich werde es gern wiederholen."
Felicity gab sich keine Mühe, freundlich zu bleiben. „Es tut dir ja gar nicht leid, Anne.
Du bist Marchioness of Waverly, Countess of Campton and Highglow und Baroness of Feldstone. Du bist Viscountess of Lyons und wirst eines Tages Herzogin sein. Außerdem ist es dir irgendwie gelungen, Domi-nick aus seinem eigenen Haus zu vertreiben", fuhr sie in einem dramatischen Ton fort. „Waverly Hall gehört jetzt dir. Versuche ja nicht, mir weiszumachen, daß es dir leid tut!"
Anne starrte Felicity verblüfft an. Offensichtlich hatte Patrick seiner Schwester von der Treuhandvereinbarung erzählt. Sie wünschte, er hätte es nicht getan. Leider hatte sie es versäumt, ihn darum zu bitten, die Angelegenheit vertraulich zu behandeln. Sie hob den Kopf etwas höher. „Du hast recht, Felicity. Es tut mir
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