010 - Skandal in Waverly Hall
zweifellos morgen früh von ihm hören. Ich schlage vor, daß Sie jetzt gehen - ohne das Haus noch einmal zu betreten."
Er nickte, ließ Dominicks Arm nicht los und kehrte zu dem strahlend erleuchteten Haus zurück. Philip und Ciarisse folgten ihm.
Anne ging einen Schritt hinter Dominick her. Er wurde von seinem Großvater beinahe gezogen und sah sie ein letztes Mal über die Schulter an. Ihre Blicke begegneten sich.
Am liebsten wäre sie den beiden gefolgt. Dominick sollte sie jetzt nicht allein lassen.
Doch Edna hielt sie fest. „Du kleines gerissenes Luder!" rief sie und schlug ihr heftig ins Gesicht.
Anne schrie laut auf, und Edna schlug erneut zu. Ihre Hand kam wie ein Peitschenhieb. Diesmal stürzte Anne von dem Schlag zu Boden. Als die Tante sich über sie beugte und zum drittenmal zuschlug, wehrte sie sich nicht. Sie hatte die Strafe verdient, und niemand versuchte, ihr zu helfen.
Endlich hörte Edna auf und keuchte heftig von der Anstrengung. „Hol die Kutsche, Patrick. Wir fahren nach Hause", befahl sie ihrem Sohn. Ihr eisiger Blick kehrte zu Anne zurück. „Ich wußte es. Ich habe immer gewußt, daß du genauso wie deine Mutter bist", stieß sie hervor und ließ Anne mit Felicity allein.
Anne sah ihre Cousine flehentlich an. „Es tut mir furchtbar leid", flüsterte sie verzweifelt. „Aber ich liebe Dominick so sehr. Das weißt du genau."
„Ich hasse dich", zischte Felicity. „Und wenn es das letzte ist, was ich tun kann: Ich werde es dir heimzahlen."
Anne holte tief Luft.
„Es wird dir noch leid tun, Anne", rief Felicity. „Es wird dir sehr, sehr leid tun!"
Dominick scheuchte seinen Braunen meilenweit über Felder und Gräben, Hecken und Steinwälle. Er war ein hervorragender Reiter und hatte das beste Pferd im Stall gewählt. Sein rascher Ritt hatte nichts Zügelloses. Es war die perfekte Leistung eines Mannes, der völlig eins mit den Bewegungen seines Tieres wurde.
Endlich ließ er das Pferd in einen langsamen Schritt fallen, hielt es an und glitt zu Boden. Er streichelte den verschwitzten Hals des Tieres und flüsterte ihm anerkennende Worte ins Ohr. Der Braune verstand, daß sein Reiter mit ihm zufrieden war. Er schnaubte und schnupperte an Dominicks Hand.
Langsam führte Dominick das Tier über die Wiese. Weit in der Ferne, hinter einem Fleckenteppich aus Feldern, die von Hecken und Steinwällen begrenzt wurden, zwischen denen Schafe und Kühe weideten, erkannte er die zahlreichen weißen Außengebäude von Waverly Hall, die Ställe und das rote Backsteingebäude mit seinen gewaltigen weißen Säulen. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen.
Entschlossen stieg Dominick wieder in den Sattel und ritt nach Hause zurück. Wieviel war inzwischen geschehen. Dabei war er gerade erst wieder heimgekehrt. Während er vom Pferd sprang, entdeckte er Felicity, die in einem leuchtend roten Kleid auf ihn zueilte. Er ärgerte sich, die Frau hier anzutreffen, und bezweifelte, daß er seine Gefühle verbergen konnte.
„Guten Morgen, Dominick", sagte Felicity lächelnd. „Ich hatte gehofft, daß ich dich vor meiner Abreise noch sehen würde."
„Guten Morgen."
Dominick übergab sein Pferd einem Stallknecht und wies den jungen Mann an, das Tier zehn Minuten herumzuführen und es anschließend gründlich abzureiben.
Felicity legte ihre kleine Hand auf seinen Arm, während sie zum Haus gingen. „Ich habe Anne einen Besuch gemacht", erklärte sie.
Dominick sah sie an. „Ich wußte nicht, daß ihr beide noch Freundinnen seid."
Felicity lächelte und ließ seinen Arm nicht los. Ihre Röcke streiften sein Bein.
„Natürlich sind wir Freundinnen.
Schließlich sind wir Cousinen, erinnerst du dich? Du glaubst doch nicht, daß ich nach all den Jahren noch einen Groll gegen Anne hege?"
Dominick sah sie offen an. „Das hatte ich in der Tat geglaubt."
Felicity riß erstaunt die Augen auf. „Du bist nicht gerade ein Gentleman", erklärte sie. Doch es war ein schwacher Protest.
„Ich habe auch nicht den Ehrgeiz, einer zu werden", antwortete er ungerührt.
Sie schlug die Augen nieder und sah ihn wieder an. „Ja, ich weiß. Das ist allgemein bekannt. Deine offen zur Schau gestellte Verachtung für jede Etikette ist geradezu faszinierend", sagte sie leise.
Er lachte vergnügt. „Na hör mal, Felicity. Ein Mann, der so mit der Verwaltung seiner Güter und der Leitung seines Rennstalls beschäftigt ist, daß ihm keine Zeit für große Feste bleibt, dürfte kaum etwas Faszinierendes an sich
Weitere Kostenlose Bücher