0110 - Die Geistergrotte
plötzlich ab. Innerhalb weniger Augenblicke hatte der Professor den Eindruck, einen Eiszapfen auf der Brust zu tragen, der sich ihm schneidend ins Fleisch bohrte.
Und das Amulett begann zu leuchten. Schwach zuerst, dann immer intensiver. Die Gestalt, die er im Zentrum ertastet hatte, schien sich von dem Talisman zu lösen, schien ein Eigenleben zu entwickeln. Zuerst glaubte Zamorra, daß ihm seine Augen einen Streich spielten, daß er einer optischen Täuschung zum Opfer fiel. Schnell aber erkannte er, daß davon keine Rede sein konnte. Was er hier vor sich sah, war kein Trugbild, keine Halluzination, sondern unleugbare Wirklichkeit.
Die Lichtgestalt, die dem Amulett entwichen war, wuchs, nahm einen dreidimensionalen, durchscheinenden Körper an, der überlebensgroß vor dem Professor in der Luft schwebte, ohne den Steinböden zu berühren.
Der Körper der Gestalt war in jeder Beziehung menschlich. Auch das Gesicht war das eines Menschen, das eines Jünglings, wie ihn Botticelli oder Michelangelo nicht schöner und edler hätten malen können. Nicht menschlich waren allein die großen, feurigen Augen, die wie glühende Kohlen wirkten, und der goldene Federkamm, der dem Wesen bis in die Stirn wuchs.
»Du hast nach mir gerufen, Zamorra?« hörte der Professor eine vor Hohn triefende und doch ungemein melodiös klingende Stimme in akzentfreiem Französisch sagen.
Innerlich stöhnte Zamorra auf. Ihm war diese Gestalt nicht unbekannt.
Hamaroth, der Dämon der Hinterlist und Heimtücke!
Vor einiger Zeit war er mit diesem Abgesandten aus dem Reich der Finsternis schon einmal konfrontiert worden. Hamaroth gehörte zu den mächtigsten Dämonen, und er hatte damals viel Glück gebraucht, das Zusammentreffen mit dem Unhold unbeschadet zu überstehen. Ganz klar, daß ihm Hamaroth seine Niederlage niemals vergessen hatte. Und nun sah es so aus, als sei die Stunde seiner Vergeltung gekommen.
Dennoch hatte Zamorra keine Angst. Er war sich völlig im klaren darüber, daß ihn der Dämon auf der Stelle töten konnte, wenn ihn danach gelüstete. Aber er glaubte nicht, daß ihm Hamaroth hier und jetzt den Garaus machen würde. Der Unhold hatte einen perfiden, satanischen Charakter. Zamorra zweifelte nicht daran, daß die Bestrafung, die sich Hamaroth für ihn ausgedacht hatte, teuflischer ausfallen würde als ein einfaches Auslöschen seiner Person.
Aus diesem Blickwinkel betrachtet, war ihm das Erscheinen des Unholds nicht einmal unwillkommen. Vielleicht gelang es ihm, Hamaroth einige Informationen zu entlocken, die etwas Licht in das Dunkel seiner Situation bringen konnten.
Er tat so, als sei er durch den Anblick des dämonischen Wesens regelrecht geschockt.
»Hamaroth!« flüsterte er beinahe tonlos. »Wieso bin ich… bist du…«
»Du trägst meinen Schatz«, sagte der Dämon. »Und es versteht sich von selbst, daß ich die Meinen nicht im Stich lasse.«
Daß diese scheinbar hilfeversprechenden Worte ganz anders gemeint waren, hätte selbst ein weniger mißtrauischer Mensch als Zamorra gemerkt. Der offenkundige Spott in der Stimme Hamaroths war nicht zu überhören.
»Wo bin ich?« fragte der Professor, als rechne er tatsächlich damit, Unterstützung bei dem Unhold aus der jenseitigen Welt zu finden. »Und vor allen Dingen, wer bin ich?«
Hamaroth lächelte tückisch. »Der Mann, mit dem du deinen Körper dank meiner Unterstützung getauscht hast, heißt Zygor und ist ein mächtiger Magier. So mächtig, daß er es sogar wagen konnte, Livana, die Tochter des Fürsten Rigiandel zu entführen, um sie sich ihm untertan zu machen. Ich hoffe, du bist dir der Ehre bewußt, den Körper eines so großen Mannes tragen zu dürfen.«
Der Professor ging nicht auf den unverhohlenen Zynismus des letzten Satzes ein. Statt dessen wiederholte er noch einmal seine Frage, wo er sich befand.
Der Dämon hatte sichtliches Vergnügen daran, ihm Antwort zu geben.
»Dies ist Myragon«, sagte er, »das Land, in dem Männer noch Männer sind.«
»Nie gehört«, murmelte Zamorra.
»Myragon ist so alt, daß in deiner Zeit nicht einmal mehr Legenden darüber berichten. Aber dies mag sich ändern. Da du nun hier bist, Meister des Übersinnlichen, werden sicherlich Taten geschehen, die den Staub der Geschichte aufwirbeln wie ein Zyklon die schlafende See. Oder sollte ich mich irren?«
Zamorra schwieg. Er wollte dem Dämon nicht die Genugtuung geben, sich an seiner Ohnmacht zu weiden.
Hamaroth lachte nur, ließ sich nicht anmerken, ob sein
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