0112 - Die Drachensaat
entkommt niemand!« knirschte er. »Denn er ist der Herr in diesem Land. Und die, die es versuchen, werden grausam bestraft!«
Niemand widersprach ihm.
Und gerade das war so schlimm an der Sache. Da standen die Väter, deren Kinder ihre Lebenskraft dem Drachen geben sollten, damit dieser noch mächtiger wurde.
Eine unmögliche und schreckliche Situation, über die Shao gar nicht nachdenken durfte. Cutler ließ sie los.
»Raus!« brüllte er. »Kommt alle her!« Diana Redford verließ die Höhle.
Die Kinder folgten. Die Jungen zuerst, dann die Mädchen. Shao beobachtete ihre Gesichter. Viele sahen ihre Väter unter den Männern, doch kein Erbarmen oder kein Mitleid funkelte in den Augen der Menschen. Sie alle standen unter dem Drachenbann. Die Kinder mussten sich aufstellen und wurden von ihren eigenen Vätern mit den Waffen bedroht. Einige Kinder versuchten ein Gespräch anzufangen, doch die barschen Antworten ließen sie verstummen. Cutler überzeugte sich davon, ob wirklich alle die Höhle verlassen hatten. Als er zurückkehrte, bewegte er nickend seinen hässlichen, schuppigen Drachenschädel. Er war zufrieden.
»Gehen wir!« befahl er und packte Shao hart am Arm. Seine Hand war wie eine Klammer. Die Chinesin spürte die Kälte, die von dem Drachenmenschen ausging. Da wusste sie, dass sie einen Dämon vor sich hatte und keinen Menschen mehr. Er ließ Shao los und schaute den Drachen an.
Barrabas war zufrieden. Er breitete seine Flügel aus und erhob sich in die Luft.
Als er über der Menschengruppe schwebte, öffnete er seinen Rachen und fauchte. Diesmal quoll eine Feuerwolke aus seinem Maul, die wie bei einem Flammenwerfer in die Dämmerung schlug und verpuffte. Die Diener beobachteten mit glänzenden Augen dieses Schauspiel, und auch die Kinder konnten ihre Blicke nicht abwenden. Für sie war es ebenfalls auf irgendeine Art und Weise faszinierend. Barrabas flog davon.
Aber der Drachenmensch blieb. King Cutler fühlte sich jetzt für alle verantwortlich. Er war der Führer, und er genoss die Macht.
Sein hässlicher Schädel fuhr in die Runde. Er konnte ihn drehen wie eine Eule.
»Nehmt die Kinder!« befahl er.
Die Männer nickten stumm und gehorchten seinem Befehl. Bald hielten Väter ihre Söhne oder Töchter an der Hand. Shao wurde ebenfalls gepackt. Um sie kümmerte sich King Cutler persönlich. Er umfasste hart ihre Schulter und drückte ihr die Finger ins Fleisch, wobei er dicht an ihrem Ohr zischte: »Halte dich ruhig, Chinesin, sonst bist du jetzt schon tot.«
Er schaute sie an, und Shao hielt seinem Blick stand. Sie hatte einen Punkt erreicht, an dem sie kämpfen wollte. Shao war an eine Grenze gestoßen.
Wenn sie jetzt nichts unternahm, verlor sie ihre Selbstachtung. Noch besaß sie ihre Waffen.
Einmal die Gnostische Gemme, die ihr Suko übergeben hatte, und die Beretta mit den Silberkugeln. Shao hatte sie an ihrem Rücken in den Hosenbund geschoben, und keiner ihrer Feinde hatte die Pistole bis jetzt entdeckt. Die Chinesin hasste Gewalt, aber wenn es keine andere Möglichkeit mehr gab, dann musste sie darauf zurückgreifen. Sie hatte alles mit den Kindern versucht, die anderen waren stärker gewesen.
Sie trat zurück. »Lassen Sie mich los!« zischte sie wie eine aufgeregte Schlange.
Der Drachenmensch lockerte tatsächlich seinen Griff. Shao entwand sich blitzschnell seiner Hand, sprang einen Schritt zurück, und bevor Cutler nachfassen konnte, hatte Shao ihre Pistole gezogen.
»Keinen Schritt weiter!« schrie sie.
Der Drachenmensch erstarrte. Er riss sein Maul weit auf wie ein Ungläubiger, der nicht begreifen konnte.
»Die Waffe ist mit Silberkugeln geladen«, erklärte Shao.
»Sie werden auch dich töten.«
Ihre Stimme klang scharf und peitschend.
Auch die anderen hatten sie gehört und schauten nur noch die Chinesin an.
Shao wusste, dass sie jetzt ungeheuer stark sein musste. Sie hatte sich einmal dazu entschlossen, die Waffe zu ziehen, jetzt musste sie durchhalten, um nicht unglaubwürdig zu werden.
Cutler lachte. »Glaubst du wirklich, dass du uns damit Angst einjagen kannst?«
»Ja.«
»Und wenn ich dir die Knarre wegnehme?«
»Versuche es!«
Der Drachenmensch zögerte. Shaos Ankündigung, auf ihn eine Silberkugel zu feuern, hatte ihn doch nervös gemacht. Er schien die Kraft des geweihten Metalls zu kennen und hielt sich deshalb zurück. Aber er war nicht allein. Noch hatte er seine Männer. Und die schickte er ins Spiel.
»Los!« rief er ihnen zu. »Packt sie. Geht
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