014 - Draculas Höllenfahrt
Namen
und Aussehen verließ X-RAY-3 die Zentrale.
Der Lotus Europa trug ihn rasch aus
New York. Nach New Rochelle waren es ungefähr dreißig Meilen. Unter normalen
Umständen hätte Larry dazu zehn Minuten gebraucht. Er brauchte die doppelte
Zeit wegen der Verkehrsmisere, unter der die Straßen fast der ganzen Welt zu
leiden hatten.
Nur sechs Meilen vom Ort entfernt
lag inmitten eines kleinen Wäldchens abseits von Straße und Eisenbahnlinie das
Anwesen. Von der Straße aus führte ein breiter Pfad zum Tor, hinter dem der
riesige Park zu erkennen war. Das eigentliche Haus war nicht sichtbar. Es lag
zu weit weg.
Larry parkte seinen Wagen genau
neben dem Tor. An dem Sandsteinpfosten war ein großes Metallschild angebracht,
auf dem in verschnörkelten Buchstaben zu lesen stand:
Sanatorium für psychisch Kranke Dr.
W. Aston
Darunter befand sich ein
Klingelknopf. Das Tor war nicht verschlossen, was darauf hinwies, daß einige
Kranke offenbar auch Spaziergänge in die weitere Umgebung machen und das
Anwesen verlassen konnten, wann immer es ihnen paßte. Bis zur nächsten
Ortschaft waren es sechs Meilen, und an einem schönen Frühlingstag, wenn es rundherum
blühte, dann wurde diese Gegend hier zu einem paradiesischen Spazierweg.
Larry drückte das Tor auf. Er ging
über den Weg und verharrte kurz im Schritt, als er den aufgewühlten Boden
bemerkte. Spuren eines Kampfes? Er mußte an die Schilderung Josef Meyerlings
denken.
X-RAY-3 kniff die Augen zusammen,
als er das metallisch blitzende Etwas zwischen den stumpfen Kieselsteinen
wahrnahm. Welch ein Zufall! Larry bückte sich, nachdem er sich mit einem raschen Blick
vergewissert hatte, daß niemand in der Nähe war, der in beobachten konnte.
Ein großer Zierknopf von Miriams
Kostüm!
Er steckte ihn in seine
Hosentasche, ließ noch seine Unruhe nicht anmerken und wirkte sogar ein wenig
scheu und weltfremd, als er endlich vor dem Hauptportal stand und auf die
Klingel drückte.
Eine ältere Frau öffnete ihm.
»Ich möchte gern zu Dr. Aston.«
Die Frau blickte ihn an. Sie hatte,
große, erstaunte Augen und nickte, gab ihm aber keine Antwort. Sie winkte ihm,
und Larry erkannte, daß sie nicht sprechen konnte. Offenbar war sie stumm,
hatte aber im Lauf vieler Jahre oder gar Jahrzehnte soviel Routine gesammelt,
daß sie die Worte vom Mund abzulesen verstand.
Mit einem schweren, schlurfenden
Gang bewegte sie sich durch den sauberen Korridor. An den Wänden hingen
zahlreiche Bilder. Zum Teil waren es Aquarelle und Ölbilder, von den Patienten
selbst gemalt. Es waren erstaunliche und erschreckende Themen darunter. Viele
Bilder waren im Stil eines Hieronymus Bosch gemalt. Aufgespaltene Schädel,
Tiere mit menschlichen Gliedmaßen, kräftige, schaurige Farben, die das
eigenwillige Gemisch von Realszenen und Traumwelt noch stärker zum Ausdruck
brachten. Sekundenlang verharrte X-RAY-3 vor einem Aquarell, das offenbar das
Selbstbildnis eines Geisteskranken darstellte. Ein wildes Gesicht, in dem die
Farben Grün, Rot und Violett überwogen. Die Sinnesorgane waren aufgeschnitten,
ein Augapfel hing an einem langen, blutroten Faden auf die Backe hinunter. Aus
der leeren Augenhöhle hing ein schartiges, bluttriefendes Rasiermesser. Die
Nase war in vier Teile zerlegt, und Hohlräume, ein Labyrinth von Gängen und
Gefäßsystemen, verwirrten den Blick des Betrachters, der nicht wußte, wohin er
das Auge zuerst lenken sollte.
»Hm hm …«, hörte er die gemurmelte
Aufforderung der Stummen. Sie winkte ihm und deutete auf eine Tür, an der ein
einfaches Pappschild hing mit der Aufschrift »Anmeldung«.
»Vielen Dank!« Larry nickte ihr zu
und blieb noch kurz vor einem popfarbenen Plakat stehen, auf dem ein großes
Maskenfest angekündigt war. Groß und deutlich fiel ihm das Datum auf.
Das war ja übermorgen!
In den Hobby- und Therapieräumen
sollte das große Spektakel stattfinden. Ein von einem Anstaltsinsassen
verfaßtes Stück sollte zur Aufführung kommen.
Dr. Aston arbeitete mit modernsten
Methoden. Die Bilder an den Wänden sollten nicht nur das Interesse der
zufälligen Besucher wecken, sondern sie dienten ihm in erster Linie dazu,
Aggressionen der Kranken abzubauen und sich tiefer in ihr Seelenleben
einzudenken. Das Schauspiel, die Mitwirkung an einem solchen Stück wiederum zwang
die Patienten, sich mit bestimmten Charakteren und Personen
auseinanderzusetzen, sich mit ihnen zu identifizieren und dabei das eigene Ich
notgedrungen auszuschalten.
Larry klopfte an
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