0159 - Der Engel, der ein Teufel war
Sie ihn?«
Wir sahen beide hin, und in den goldenen Strahlen der Morgensonne erblickten wir die wildromantischen Felsen, die senkrecht und schroff in das Neidlinger Tal abfielen. An ihrem Fuß erstreckten sich weite Wälder und Wiesen. Nur zwei, drei schmale Straßen durchzogen sie, und führten zu einem malerisch gelegenen Dorf hin, wahrscheinlich Neidlingen.
Die Ruine Reußenstein aber erhob sich auf den weiß-grauen Felsen: einige Mauern, ein hoher, wuchtiger Viereckturm, der sich trutzig in den klaren Himmel streckte, das war alles. Einige Bäume wuchsen auf den Mauerresten, und auch am hinteren Teil der Ruine, also mehr landeinwärts. Alles strahlte eine malerische Schönheit aus, und Frieden, nicht auszudenken, daß dort unten etwas liegen sollte, das mit Lavinias dämonischen Zielen zu tun hatte.
Und doch war genau das der Fall.
Noch immer wollte ich nicht glauben, was ich glauben mußte.
Diese Teufelin hatte schier Unmögliches geschafft. Sie hatte uns beide aus England herausbekommen, wie, das würde sie mir wohl nicht verraten, aber offenbar auf ziemlich normalem Weg, nämlich mit einem Flugzeug.
Ich stellte ihr dennoch eine entsprechende Frage, und nutzte die gute Laune aus, die sie momentan offensichtlich hatte.
»Es war ganz einfach, John«, antwortete sie. »Mit viel Geld ist bei euch Menschen alles einfach. Wir sind mit meiner Privatmaschine von Heathrow nach Stuttgart geflogen. Dort hat sich dieser nette Bursche meiner angenommen. Er heißt Anton Häberle. Ja, und jetzt sind wir hier. Die Karte, die mir Cyrill York vorenthalten wollte, sagt, daß der Schlüssel zur Alptraumburg irgendwo in den Felsenkatakomben unter der Ruine Reußenstein liegt. Wir werden ihn uns holen.«
Verflixt, sie schaltete schnell, diese Lavinia, und sie verlor keine Zeit. Das mußte man sich einmal vorstellen: Sie hatte erfahren, daß der Schlüssel, hinter dem sie her war, in Deutschland zu finden war, und hatte sich sofort auf den Weg gemacht, ohne Mühe und Kosten zu scheuen.
Und außer dieser Feststellung gab es noch zwei weitere: Wer eine Privatmaschine sein eigen nannte, der war ziemlich begütert.
Und zweitens: Da sie die ganze Reise mit herkömmlichen menschlichen Methoden über die Bühne bringen mußte also mit Flugzeug, Hubschrauber und so weiter lag der Gedanke nahe, daß sie doch nicht so mächtig war, wie ich immer geglaubt hatte. Sonst hätte sie uns nämlich einfach hierher gezaubert. Okay, das war immerhin etwas.
An ihrer Gefährlichkeit aber änderte das für mich trotzdem nichts.
Ich war ihr Sklave.
Wieder mußte ich an Bill Conolly denken, und dann auch an mein silbernes Kruzifix, das ich hatte wegwerfen müssen.
Wie sollte ich dieses Mal bloß aus dem Schlamassel herauskommen?
Der Pilot konzentrierte sich wieder voll auf seinen Job und brachte den Schrauber in einer eleganten Schleife tiefer, die verwitterten Felsen der Ruine Reußenstein wuchsen uns entgegen.
Er flog zwei Schleifen, dann zog er den Vogel zu einer weiten Fläche hinüber, die wohl auch als Grillplatz diente. Die großen Eichen, die mit ihren weitausladenden Kronen einen herrlichen Sonnenschutz abgaben, luden dazu gerade ein. Im Sommer mußte hier oben eine Menge los sein.
Ich aber dachte nur daran, wie ich die Hexe ausschalten konnte, die sich in der Alptraumburg die nötigen Machtmittel verschaffen wollte, um endgültig von ihresgleichen anerkannt zu werden und die ersten Sprossen in der Hierarchie der Schwarzen Familie erklimmen wollte.
Sie war eine Halbdämonin, trotzdem hatte sie mich gepackt.
Mächtige Dämonen wie der Schwarze Tod oder der Traum-Dämon hatten meine Zähne gesehen, und die ihren sich an mir ausgebissen, und ausgerechnet eine zweitklassige Halbdämonin brachte mir die Flötentöne bei.
Das tat schon weh.
Überhaupt erinnerte mich diese Lavinia verdammt an andere weibliche Vertreterinnen der Dämonischen Sippschaft, nämlich an Serena Kyle und die Tochter des Teufels, Asmodina.
Da war ich ja wirklich in bester Gesellschaft.
»Nimm dich in acht, John Sinclair«, sagte sie drohend, als Anton Haberle den Hubschrauber auf der Wiese landete. »Ich weiß, wie gefährlich du bist, nicht zuletzt hast du es mir selbst gezeigt, als du trotz meines Bannes Lazarius erledigt hast. Aber das passiert kein zweites Mal. Versuche keine Tricks. Tu, was ich dir sage, und wir sind die besten Freunde…«
»Ich gebe niemals auf, Lavinia«, unterbrach ich sie eisig.
Sie nickte, als habe sie diese Erklärung erwartet.
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