017 - Der Engel des Schreckens
zu begrüßen.
Sein Äußeres war wirklich nicht sehr anziehend. Lydia bemerkte, daß er, abgesehen von seinen anderen Gebrechen, auch noch leicht schielte.
»Ich hatte bis jetzt noch keine Gelegenheit, Ihnen zu danken, Mr. Jaggs. Sie haben mit das Leben gerettet.«
»Is schon jut, Miss«, krächzte er. »Pflicht is Pflicht!«
Sie glaubte, er blicke an ihr vorbei, bis sie sich klarmachte, daß sein Augenfehler diesen Eindruck erwe4ktei.ll Ihnen Ihr Zimmer zeigen«, sagte sie hastig.
Sie führte ihn in einen kleinen Raum, der für ihn hergerichtet war, und schaltete das Licht ein.
»Viel zu hell für mich, Miss!« Der Alte schüttelte den Kopf. »Ick sitze jern im Dustern und spanne - det mach' ick jern, im Dustern sitzen und uffpassen.«
»Aber Sie können doch nicht im Dunkeln bleiben, Sie wollen doch lesen, sich die Zeit vertreiben?«
»Kann nich lesen, Miss«, sagte Jaggs vergnügt. »Schreiben ooch nich.«
Widerstrebend schaltete sie die Lampe aus.
»Aber Sie können so ja nicht einmal sehen, was Sie essen oder trinken.«
»Det kann ick fühlen, Miss.« Er kicherte heiser. »Machen Se sich man darum keene Sorgen! Ick sitze hier und denke feste nach.«
Wenn Lydia sich schon vorher unbehaglich gefühlt hatte, so war sie jetzt wirklich verlegen, wußte nicht, was tun. Schon allein der Anblick der Tür, hinter der der alte Jaggs saß und feste nachdachte‹ regte sie auf. Sie konnte nicht einschlafen, mußte an den alten Mann denken, der dort in der Dunkelheit saß und ›spannte‹, wie er sagte. Als sie endlich einschlief, war sie fest entschlossen, diesen ihr so peinlichen Zustand zu ändern.
Sie wachte auf, als das Mädchen ihr den Tee brachte, und erfuhr, daß Jaggs schon weggegangen war.
Auch das Mädchen hatte ihre besonderen Ansichten über den »alten Herrn«. Auch sie hätte die ganze Nacht nicht schlafen können, beklagte sie sich bei Lydia, hätte immer an ihn denken müssen - aber das war jedenfalls sehr übertrieben.
Das muß aufhören, dachte Lydia, und fuhr am Nachmittag zu Jack Glover, um ihm ihren Entschluß mitzuteilen. Jack hörte aufmerksam zu, bis sie mit ihren Klagen zu Ende war.
»Es tut mir leid, daß der Gedanke an den Alten Sie gestört hat, aber Sie werden sich schon im Laufe der Zeit an ihn gewöhnen. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie ihn bis zum Ende des Monats behalten wollten. Sie würden mir viel unnötige Angst ersparen.«
Zuerst war sie fest entschlossen, ihren Willen durchzusetzen, aber er redete ihr so beharrlich zu, daß sie schließlich nachgab.
Lucy, die neue Zofe, war aber nicht so leicht zu überzeugen.
»Das gefällt mir nicht, Miss. Er ist weiter nichts als ein alter Strolch, und ich bin sicher, wir werden noch mal in unseren Betten ermordet.«
»Reden Sie doch keinen Unsinn«, lachte Lydia. »Vor Mr. Jaggs brauchen Sie keine Angst zu haben; mir zum Beispiel hat er schon einen großen Dienst erwiesen.«
Das Mädchen brummte und fügte sich verdrossen. Lydia hatte die Ahnung, daß sie einen guten Dienstboten verlieren werde, und sollte sich darin nicht getäuscht haben.
Um halb zehn erschien der alte Jaggs, die Zofe hatte ihm geöffnet.
»Das ist Ihr Zimmer«, fuhr sie ihn an, »und das Zimmer ist mir, weiß Gott, lieber als Sie.«
»Ach nee, Miss«, grinste der Alte, und Lydia, durch die Stimmen im Vorsaal angelockt, lauschte belustigt.
»Und det Zimmer is doch jar nich so schlecht. Machen Se das Licht aus, Kleene; ick kann det Licht nich vertragen. Ich hab's jern duster, wissen Se, wie in die kleenen Zellen im Holloway-Kittchen, wo Se vor zwee Jahren jesessen haben, weil Se jeklaut haben.«
Lydias Lächeln verschwand; sie hörte, wie die Zofe aufgeregt atmente.
»Sie alter Lügner, Sie«, zischte sie ihn an.
»Lucy Jones heeßen Se jetzt - damals war es Mary Welch«, kicherte der alte Jaggs.
»Glauben Sie, ich lasse mich hier beleidigen?« Lucy schrie beinahe, obwohl ein Ton von Angst in ihrer schrillen Stimme mitschwang. »Ich gehe noch heute abend!«
»Nee, mein Kind, det werden Se nich«, versetzte der Alte gemütlich. »Heute werden Se hier schlafen, morjen früh können Se türmen. Und wenn Se versuchen, aus de Tür da rauszujehn, bevor ick Se rauslasse, werden Se jeschnappt.«
»Es liegt gar nichts gegen mich vor«, verriet sich das Mädchen.
»Falsche Namensanjabe, Kleene! Sagen, Se kommen von de Agentur, wo det jar nich stimmt! Is det nischt? Glooben Se man, ick kann Ihnen jenuch nachweisen, det Se fors neechste Jahr
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