02 - Aus Liebe zu meiner Tochter
Aufregung zerrten die Männer an Johns Armen und schlugen ihn sogar auf den Rücken, damit er losließ. Christy stieß sie zurück und schützte ihren Sohn, so gut sie konnte.
139
»Kämpfe nicht mit den Männern!« schrie ein Bruder.
»Ich gebe meine Kinder nicht her!« schrie sie zurück.
Christy war schockiert, als sie sah, daß sich auch Riaz' Onkel Hyatt unter den Angreifern befand. Hyatt war immer der netteste von allen gewesen, ihr Freund und Beschützer. Doch jetzt hatte auch er sich mitreißen lassen.
Ohne nachzudenken, versetzte sie Hyatt mit aller Kraft einen Schlag ins Genick. »Ich bin nicht stolz darauf«, sagte sie später, »aber es mußte sein. Sie hatten jegliche Beherrschung verloren.« Hyatt wich stöhnend zurück.
Die unerwartete weibliche Gegenwehr ließ seine Mitkämpfer zögern, und schließlich räumten die Männer murrend das Feld. Minuten später wurde Adam zu Christy zurückgebracht.
Zu diesem Zeitpunkt schien die Familie in zwei Lager gespalten: in das der Männer und das der Frauen. Hyatts Frau erklärte, die Männer hätten ganz und gar unrecht - eine mutige Äußerung in einer von Männern beherrschten Gesellschaft. Ambreen schrie ihren Mann sogar an - ein in Pes-hawar bis dahin beispielloses Vorkommnis.
Der stärkste Verbündete, der Christy noch blieb, war ein Cousin namens Shohob. »Was immer du tust«, warnte er sie, »laß heute abend niemanden in dein Zimmer.« An diesem Abend schloß Christy die Tür zu ihrem Schlafzimmer ab, obwohl sie wußte, daß so etwas als tabu galt. Um Mitternacht, als die Jungen schliefen, sah sie, daß sich der Türgriff bewegte; irgend jemand wollte in ihr Zimmer. Sie schlich auf Zehenspitzen zur Tür und schaute durch einen schmalen Spalt an der Türkante. Der Anblick verschlug ihr den Atem: Draußen vor der Tür standen ein Mann, der aussah wie Fiaz, und drei weitere Männer, die sie noch nie gesehen hatte. Sie hatten ein starkes Seil und einen Sack aus Leinen dabei. Aus ihren Blusen ragten Messergriffe.
Zu Tode erschrocken setzte Christy sich auf den Boden und klopfte so fest sie konnte mit einem Taschenmesser an
die Wand. Ein paar Minuten später hörte sie, wie Shohob wütend mit den anderen stritt. »Das könnt ihr mit einer Amerikanerin nicht machen«, rief er. »Im amerikanischen Konsulat weiß man, wo sie ist, und man wird die Familie zur Verantwortung ziehen.« Shohob geriet in Fahrt und fügte dramatisch hinzu: »Ihr wißt, daß die amerikanische Regierung zur Befreiung ihrer Bürger sogar Truppen einsetzt.« Unter Flüchen zogen Fiaz und die übrigen Männer schließlich ab.
Shohob erklärte Christy später, die Männer hätten sie nicht töten, sondern nur so lange festhalten wollen, bis die Familie das Sorgerecht für John und Adam durchgesetzt habe.
Am nächsten Morgen legte Fiaz Christy eine gerichtliche Verfügung vor, die ihr verbot, Pakistan mit ihren Söhnen zu verlassen. »Wenn es ihr gelingt, die Kinder fortzubringen«, hieß es in dem Antrag der Familie, »ist deren Zukunft ruiniert.«
Christys erster Gedanke war, dazubleiben und zu kämpfen. »Ich gehe nicht ohne meine Kinder«, erklärte sie beharrlich. Eine ihr freundlich gesinnte Cousine namens Ron-nie riet davon ab. »Das ist zwar eine schlimme Sache«, sagte sie, »aber du hast bessere Chancen, wenn du gehst und von Amerika aus um deine Kinder kämpfst.« Es war klar, was sie meinte: Die Ereignisse der vergangenen Nacht waren kein Zufall oder Bluff. Die Männer würden wiederkommen.
Christy traf eine Entscheidung. Sie nützte ihren Söhnen nichts, wenn sie eingesperrt war oder wenn etwas noch Schlimmeres passierte. Sie telefonierte mit dem amerikanischen Konsulat und kündigte für den folgenden Tag ihren Besuch in der Botschaft in Islamabad an.
In dieser letzten Nacht in Peshawar betrachtete Christy lange ihre Söhne, die neben ihr schliefen. Sie dachte über die furchtbare Entscheidung nach, die sie hatte treffen müssen, 141
und suchte nach einer Alternative, obwohl sie wußte, daß es keine gab. »Diese Nacht läßt sich nicht mit Worten beschreiben«, sagte sie. Am nächsten Morgen verließ sie schon früh das Haus, ohne John und Adam zu wecken; noch einen langen Abschied konnte sie nicht verkraften.
In den vorangegangenen beiden Jahren hatte Christy sich oft über die beschränkten Möglichkeiten der Diplomatie geärgert. Beamte des amerikanischen Konsulats hatten ihr klargemacht, daß sie ihren Kindern weder Zuflucht gewähren noch eine sichere
Weitere Kostenlose Bücher