02 Nightfall - Rueckkehr des Engels
vorn gebeugt am Bettrand sitzen, Glorias Finger an den Lippen. Er würde warten, bis sie wieder wach war, damit er noch einmal mit ihr reden und ihr ein letztes Mal eine gute Nacht wünschen konnte.
Sein iPhone piepte. Er küsste erneut Glorias Fingerkuppen und legte ihre Hand dann auf die Decke. Dann zog er das iPhone aus der Tasche seines Sweatshirts und öffnete eine rot beflaggte Mitteilung im Eingangskorb seiner Emails.
Während er las, begann sein Puls zu rasen, und seine Hoffnung kehrte schlagartig zurück.
James Wallace aus der pathologischen Abteilung des FBI in Portland, ein Mann, den Wells gut kannte, hatte anscheinend ein Problem.
Meine Tochter behauptet, Dante Prejean hätte ihr das Leben gerettet. Aber er hat sie nicht von seinem Blut trinken lassen, sie in keinen Vampir verwandelt. Er hauchte ihr blaues Feuer und Musik ein. Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet. Ich weiß nicht einmal, ob so etwas überhaupt möglich ist. Aber falls ja, hätte ich gern die Langzeitwirkungen gekannt. Ist die Menschlichkeit meiner Tochter korrumpiert?
Wells schrieb eine SMS zurück: Gute Frage. Ich versuche, es herauszukriegen. Schau dir ihre medizinische Akte an. Vielleicht war es nur eine Halluzination, ausgelöst durch Schmerzen und Blutverlust.
Danke.
Weiß sonst jemand darüber Bescheid? Jemand außer dir?
Nein, natürlich nicht. Ich habe nur dich kontaktiert, weil ich ja weiß, dass du dich mit Dante Prejean beschäftigt hast.
Gut. Behalte das alles für dich, und ich melde mich dann …
Wells schob das iPhone in seine Tasche zurück. Auf einmal war ihm ganz leicht zumute.
Zuerst die Aufnahmen der Sicherheitskameras und jetzt das.
Man hatte ihn sofort nach dem Vorfall im Bush-Center kontaktiert und ihn über Johanna Moore, Bad Seed und S ausgefragt. Dabei wollte man auch – fast en passant – wissen, ob Johanna an einem Projekt mit genetischem Material von Vampiren gearbeitet hatte. Er hatte erklärt, er habe seit seiner Pensionierung nichts mehr mit Johannas Projekten zu tun gehabt.
Damals hatte er sich gewundert, was sie auf eine solche Frage gebracht hatte. Doch inzwischen, nachdem er die wackeligen Aufnahmen angeschaut hatte, die ihm Bronlee geschickt hatte, und die Lache auf dem Boden gesehen hatte, die einmal ein Lebewesen dargestellt hatte, glaubte er zu wissen, warum.
Das Reinigungsteam und seine Chefs nahmen an, die Lache müsse bei einem Versuch ausgelaufen sein. Sie wären nie auf die Idee gekommen, dass das die Frau war, die sie suchten. Oder das, was von ihr übrig war.
Johanna war nicht verschwunden. Sie hatte das Center nie verlassen.
S hatte sichergestellt, dass sie das nicht mehr tun würde.
Die arme Johanna hatte bis zum Schluss keine Ahnung gehabt, wer S wirklich war. Was ihre kleine Nachtgeschöpf-Schönheit im Laufe der Zeit geworden war. Was dieses Wesen alles vermochte.
Ehrlich gesagt war es Wells nicht anders ergangen. Auch er hatte nicht den blassesten Schimmer gehabt, bis Bronlee ihm die Disc geschickt hatte.
S hatte es immer vor ihnen geheim gehalten.
Aber auch Wells hatte ein Geheimnis bewahrt. Vor Johanna. Vor dem FBI. Vor S.
Ein Geheimnis, das nun bald lüften würde.
Er beugte sich vor und gab der bleichen Wange seiner Frau einen innigen Kuss. Dann richtete er sich auf und erhob sich. Auf leisen Sohlen schlich er hinaus und ließ Gloria in Morpheus’ narkotischer Umarmung zurück.
Wenn S eine Frau auflösen und eine andere heilen konnte, dann war er bestimmt auch in der Lage, Gloria zu retten. Wells war sich ganz sicher. Jetzt musste er nur noch einen Gott – einen jungen, kaputten Gott, den er selbst auf die Welt gebracht hatte – seinem Willen unterwerfen, und dazu bedurfte es nur eines einzigen geflüsterten Wortes.
Ehe Wells S jedoch dazu benutzen würde, Gloria zu heilen, musste er die Bedrohung seines eigenen Lebens abwenden. Möglicherweise war es an der Zeit, den Drahtziehern aus der Schattenabteilung ihre Macht streitig zu machen und sie an sich zu reißen. Er und Alexander – eine neue Führung, eine neue Herrschaft.
Im Wohnzimmer fiel Mondlicht durch das Oberlicht in der hohen Decke herein und erfüllte den Raum mit einem fahlweißen Schimmer. Wells sah durch das Fenster in den Wald hinaus.
Alexander – in Jeans und einem grauen Kapuzenpullover – lief über den von Kiefern umgebenen Vorplatz auf das Haupthaus zu. Über seiner Schulter hing eine Ledertasche, und in der Hand hatte er eine Schusswaffe. Das Mondlicht färbte seine Haare
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