02 Nightfall - Rueckkehr des Engels
jemanden vor lauter Frust mit dem Riemen ihres Fernglases zu strangulieren, würde der Tag sein, an dem sie ihre Kündigung einreichte und sich stattdessen vielleicht schlechten Actionfilmen zuwandte. Ihre miese Laune verflog. Einmal tief durchatmen, Muskeln lockern. Die kurze, erhitzte Diskussion mit ihren Vorgesetzten am Flughafen von Portland war der eigentliche Auslöser für ihre schlechte Stimmung gewesen.
Ich brauche keine Verstärkung. Berufen Sie ihn ab.
Wells und Wallace gehören Ihnen, Caterina – Ihnen allein. Beck ist nur dabei, falls etwas schiefgehen sollte. Besser, man ist vorbereitet, als dass man kalt erwischt wird.
Es wird nichts schiefgehen. Ist bei mir jemals etwas schiefgegangen?
Beck kommt mit.
Damit war die Diskussion beendet gewesen. Obwohl sie für gewöhnlich allein arbeitete und das auch vorzog, brummten ihr ihre Vorgesetzten manchmal eine Verstärkung auf, wenn sie mehrere Zielpersonen gleichzeitig anzuvisieren hatte. Wie auch in diesem Fall.
Mit einem ruhigeren Puls und größerer Gelassenheit fasste Caterina in Gedanken zusammen, was sie über die Leute wusste, die in diesem Anwesen wohnten.
Alexander Apollo Lyons: Er hatte den Mädchennamen seiner Mutter angenommen, um sich selbstständig eine Karriere beim FBI aufzubauen – die offenbar sehr erfolgreich war –, ohne auf den Namen seines Vaters zurückzugreifen. Er war Agent und leitender Special Agent der FBI-Niederlassung in Portland, fünfunddreißig Jahre alt, einen Meter fünfundachtzig groß und der jüngere der beiden Zwillinge, da er zwei Minuten später als seine Schwester auf die Welt gekommen war. Sein rasender Aufstieg im FBI war zu einem abrupten Ende gekommen, als seine Schwester Anzeichen einer Geisteskrankheit zeigte und er sich von Washington hierher hatte zurückversetzen lassen, um sich um sie kümmern zu können.
Athena Artemis Wells: eine ehemals bekannte Psychiaterin, die sich auf anormale Psychologie spezialisiert hatte. Fünfunddreißig Jahre alt, einen Meter fünfundsiebzig groß und schizophren oder etwas Ähnliches, seit sie fünfundzwanzig war. Es war ihr gelungen, noch fünf Jahre zu funktionieren, ehe sie ihre Zwangsvorstellungen in einer Klinik für Geisteskranke führten, wo man sie unter Medikamente setzte und einsperrte.
Das Haupthaus und das Nebengebäude lagen still unter ihnen. Zwei Autos standen noch in der Einfahrt, ein Saturn und ein Wagen unter einer Plane – vermutlich gehörte letzterer Athena.
Caterinas Recherchen hatten ergeben, dass man bei Wells’ Frau Gloria fünf Jahre zuvor Gebärmutterkrebs diagnostiziert hatte. Man hatte sie operiert und bestrahlt. Ein Jahr zuvor hatte Wells den Belegen nach zu urteilen mit Chemotherapie und Morphium begonnen. Der Krebs war offenbar wieder zurückgekehrt.
Caterina sah sich im Garten um und konnte nirgends ein Anzeichen für einen Hund oder ein anderes Haustier erkennen. Vielleicht waren die Wells keine Streicheltier-Familie. Der Duft von Kiefern und nassem Gras stieg ihr in die Nase.
Hatte Bronlee Wells die Filme aus der medizinischen Abteilung des Centers geschickt? Sobald es dunkel war, wollte Caterina das herausfinden. Ihre Mission bestand diesmal aus zwei Teilen: Wells unschädlich machen und die verlorengegangenen Filmaufnahmen an sich bringen – falls sie sich in Wells’ Besitz befanden.
Mehrere stille Stunden später ging die Tür des kleinen Hauses auf, und eine Frau kam heraus. Caterina richtete das Fernglas auf Athena. Sie trug einen schmutzigen Arztkittel, eine nussbraune Cordhose und lief barfuß durch den Garten. Die Tür ließ sie hinter sich offen. Sie lief aufs Haupthaus zu, blieb dann aber abrupt stehen, drehte sich um und sah direkt in Caterinas Fernglas.
Athena legte einen Finger auf die Lippen. Psst.
»Mein Gott«, keuchte Caterina. Ihre Haut prickelte. »Sie weiß, dass wir hier sind.«
»Unmöglich«, sagte Beck. »Sie ist durchgeknallt. Sie weiß gar nichts.«
Caterina hatte das unangenehme Gefühl, dass sie diejenigen waren, die überhaupt nichts wussten.
Athena Wells wandte den Blick ab und legte den Rest des Weges zum Haupthaus hopsend zurück. Sie öffnete die Haustür und ging hinein. Die Tür fiel hinter ihr zu. Einen Augenblick später gab der Handscanner, den Caterina bei sich
trug, das Signal von sich, dass die Alarmanlage ausgeschaltet war.
Sie war aus. Zusammengebrochen oder ausgemacht.
Caterina beobachtete das Haus noch eine halbe Stunde. Sie spürte, wie sie sich innerlich immer mehr
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