021 - Blutorgie in der Leichengrube
Dorf, das in einem langgestreckten Kessel unter ihr lag, und sah, wie plötzlich hinter den Fenstern die Lichter ausgingen. »Was geschieht dort?«
»Das passiert hier häufiger, besonders an Regentagen. Die Leitung ist alt und reparaturbedürftig. Wenn es gewittert, kann es da schon mal zu Ausfällen kommen. Hörst du den Donner?«
»Hast du Angst, Sheldon?«
»Ja«, gab er zu. »Aber ich werde sie überwinden.«
Coco lächelte ihn an. Die Dämmerung und die schwarzen, tiefhängenden Wolken machten es fast unmöglich, sein Gesicht zu erkennen.
»Ich bin froh, daß du das sagst. Ich mag keine Männer, die vorgeben, Helden zu sein. Aber du bist ein Held. Du hast versucht, dem Grauen Einhalt zu gebieten.«
Sheldon zog sie an sich. Cocos Lippen waren weich und warm. Er vergaß seine Angst vor der Dunkelheit. Er verspürte den Wunsch, ihren schönen Körper zu streicheln und in ihren Armen den Schrecken zu vergessen, der ihnen beiden bevorstand. Dann gab er sich einen Ruck. Nein, es war sinnlos, sich gehenzulassen. Er mußte an seine Aufgabe denken, vor allem aber daran, daß Cocos Leben gefährdet war.
»Du mußt zurück«, sagte er.
Der Satz wurde buchstäblich zerrissen. Er ging unter in einem grellen, explosionsartigen Blitz. Das Licht schien sie zu verbrennen. Der Blitz schlug wenige hundert Meter von ihnen entfernt ein und verbreitete einen scharfen Brandgeruch. Sheldon hielt Coco umklammert. Der Dämon hatte ein Zeichen gegeben.
»Er spielt mit uns«, flüsterte Sheldon. »Es bereitet ihm Spaß, uns zu verhöhnen.«
Coco umarmte ihn.
Er schien ihre Geste falsch zu deuten und sagte: »Ich kann verstehen, wie dir zumute ist. Du hättest nicht kommen dürfen. Du wirst abreisen, noch heute nacht.«
»Abreisen?«
»Ja, zurück nach London. Ich sagte dir, daß die Männer sich im Gemeindehaus getroffen haben. Wir glauben jetzt genau zu wissen, was geschehen wird. Der Dämon wird alle Fremden gegen uns aufhetzen, und wir werden in ihnen seine Helfer sehen müssen. Ich kann und will nicht erleben, wie es zwischen uns zu einem tödlichen Kampf kommt.« Noch ehe Coco etwas erwidern konnte, fügte er hinzu: »Wir haben bereits alle Vorbereitungen getroffen. Aber sie werden sich als sinnlos erweisen, wenn es dem Dämon gelingen sollte, andere für sich kämpfen zu lassen. Die Fremden zum Beispiel, die Männer aus O'Neills Gasthaus – oder gar dich.«
»Hör auf damit!«
»Wir müssen den Realitäten ins Auge sehen«, sagte er und sah auf das Dorf hinab, das immer noch in totaler Dunkelheit lag. »Versuch dir vorzustellen, wie das sein würde! Da zerfleischen wir uns gegenseitig, und der Dämon steht dabei und reibt sich die Hände.« Er packte Coco fest an beiden Schultern. »Hast du die Kraft, dich seinem Zauber zu widersetzen?«
»Ja«, behauptete sie.
»Aber was ist mit den anderen?«
»Mit welchen anderen?«
»Mit den Fremden, den Touristen. Wir haben sie registriert. Es sind mehr als zwanzig, verteilt auf O'Neills Gasthaus und ein paar Privatquartiere.«
»Warum warnt ihr sie nicht? Warum schickt ihr diese Leute nicht einfach weg?«
Sheldon lachte kurz und bitter. »Wir haben es versucht, schon im letzten Jahr.«
»Und?«
»Ich will dir sagen, was dabei herauskam. Das genaue Gegenteil von dem, was wir anstrebten. Die Fremden witterten hinter unseren Warnungen einen Touristengag. Sie glaubten, wir versuchten mit erfundenen Dämonen unsere triste Landschaft aufzuwerten und ihre Neugierde zu wecken. Sie meinten, unbedingt dabeisein zu müssen, wenn der angekündigte Hexensabbat beginnt. Und so würde es heute wieder sein. Diese Fremden gieren nach Sensationen, nach dem Abwegigen. Sie wollen etwas erleben und wissen doch nicht, daß dieses Erleben zum Tode führen kann.«
Er legte ihr seinen Arm um die Schultern. Es regnete immer noch, aber weniger stark; auch der Wind war abgeflaut. Coco konnte kaum etwas erkennen, aber Sheldon besaß offenbar die Fähigkeit, die Dunkelheit mit Katzenaugen zu durchdringen.
»Wohin gehen wir?« fragte sie.
»Zum Friedhof. Oder hast du Angst?«
Coco erwiderte nichts. Sheldon wußte es einfach nicht besser – sie durfte ihm daraus keinen Vorwurf machen. »Was sollen wir auf dem Friedhof?«
»Wir besuchen Clara«, erwiderte er. »Sie soll dich kennenlernen. Sie soll sehen, wie stolz ich auf dich sein kann.«
Was redete er da? Clara war tot. Aber dann glaubte Coco zu fühlen, was Sheldon bewegte. Die Vorstellung war symbolisch zu verstehen. Die Idee hatte etwas
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