023 - Das Kastell der Toten
wiegen. Vielleicht...
Das Geräusch an der Tür unterbrach seine Gedanken.
Tessa lächelte, als sie hereinschlüpfte. Sie trüg ein Tablett mit einer Whiskyflasche und zwei Gläsern. Ein schwarzes bodenlanges Kleid umspielte ihre Figur, an ihrem Hals glitzerte eine Kette aus Bernstein, die genau zu ihren Augen passte. Sie sah so unschuldig, jung und reizvoll aus, dass Dave für einen Moment wieder Zweifel kamen.
Er griff nach dem Glas, das sie ihm eingeschenkt hatte. Der Whisky brannte in seiner Kehle, erwärmte die Magenwände und schien das Eis aus seinen Adern zu vertreiben. Auch Tessa nahm einen Schluck. Sie saß mit übereinandergeschlagenen Beinen im Sessel, das Gesicht mit den hohen Wangenknochen, den sinnlichen Lippen und den schillernden Augen wirkte sanft und nachdenklich. Sie war schön, wunderschön. Dave starrte sie an, spürte die jähe, fiebrige Erregung. Für einen Moment hatte er das Gefühl, noch nie einer begehrenswerteren Frau begegnet zu sein.
Warum sollte er eigentlich nicht bei ihr bleiben?
Bot sie ihm nicht alles, was er sich nur wünschen konnte? Liebte er sie nicht? Mehr — als er je eine andere Frau geliebt hatte und . ..
Der Gedanke an Jim schnitt wie ein Messer durch sein Hirn.
Nein, hämmerte er sich ein. Er musste hier heraus! Er durfte diesem seltsamen Zauber nicht erliegen, musste sich wehren gegen den Bann, der ihn einzufangen drohte. Mit einer heftigen Bewegung leerte er sein Whiskyglas und presste die Lippen aufeinander.
Tessa schien seine Gedanken zu lesen.
Ganz langsam stand sie auf. Mit zwei Schritten war sie bei ihm, schlang die Arme um seinen Nacken und sah ihm in die Augen.
»Ich liebe dich, Dave«, flüsterte sie. »Ich liebe dich, hörst du? Du darfst mich nicht verlassen ...«
Er spürte ihre Wärme, spürte die erwachende Glut in seinen Adern.
»Tessa«, murmelte er trunken.
»Verlass mich nicht! Versprich, dass du mich nicht verlassen wirst. Versprich es!«
Seine Hände glitten über ihre Schultern, ihren Rücken, suchten und fanden den Verschluss des Kleides, zerrten daran, bis der raschelnde Stoff zu Boden sank. Tessas Körper war weiß und glatt und biegsam. Er küsste sie, öffnete ihre Lippen. Mit geschlossenen Augen lag sie in seinen Armen, die Hitze ihrer Haut antwortete seiner Leidenschaft. Sie presste sich an ihn, als wolle sie ihn verbrennen.
Ihre Körper fanden sich, verschmolzen.
Und Dave vergaß alles um sich herum. Alles außer Tessas Stimme dicht an seinem Ohr, die immer wieder trunken und leidenschaftlich Worte murmelte: »Versprich es, Dave. — Bleib bei mir. — Versprich es, versprich es, versprich es...«
***
Der Rausch war verflogen.
Dave wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Draußen herrschte immer noch Dunkelheit, und im Zimmer geisterte nur der Widerschein der Kerzen über die Wände.
Irgendwo schrie ein Käuzchen. Eine Katze miaute auf dem Schlosshof — und dieses Geräusch brachte mit einem Schlag die Erinnerung zurück.
Dave richtete sich auf.
Er fühlte sich unsicher, so seltsam schwindelig — als habe er weit mehr getrunken als das eine Glas Whisky. Mit schleppenden Schritten ging er zum Fenster hinüber und schob die Vorhänge beiseite.
Die Sterne verblassten.
Im Osten überzog ein grauer Schleier den Himmel, kündete den nahenden Morgen an. In zwei Stunden würde es hell sein. Zwei Stunden, die ihm, Dave, genügen mussten, um einen Ausweg zu finden.
Er wollte sich zurückziehen — da fiel sein Blick auf den alten Turm.
Licht brannte hinter einem der Fenster. Die verrückte Schlossherrin schien wach zu sein. Dave zögerte einen Moment — dann beschloss er aus einem Impuls heraus, ihr einen Besuch abzustatten.
Vielleicht redete sie mit ihm, beantwortete seine Fragen.
Und vielleicht würde er dann endgültig die Gewissheit haben, an die sich ein Teil seines Ichs immer noch zu glauben weigerte.
Er verließ das Zimmer.
Halb und halb hatte er erwartet, die Tür verschlossen zu finden, doch sie ließ sich ohne weiteres öffnen. In dem Flur draußen herrschte völlige Finsternis. Dave nahm eine Kerze aus dem Leuchter, schirmte die Flamme mit der hohlen Hand ab und strebte dem Ausgang zu.
Eine graue Katze erhob sich fauchend, als er auf den Schlosshof trat. Er blieb stehen, sah sich um. Aus fünf, sechs verschiedenen Richtungen musterten ihn glimmende Augenpaare. Nach und nach konnte er die Umrisse von mindestens einem Dutzend Katzen ausmachen, die ihn belauerten, und ihm wurde klar, dass er das Schloss
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