0248 - Gatanos Galgenhand
erschreckten die Mütter ihre Kinder, der Henker war für die junge Stadt zu einem Fluch geworden. Niemand wollte etwas mit ihm zu tun haben. Er war wie ein Aussätziger, den man trotzdem brauchte. Selbst die Kirche wandte sich von ihm. Kein Pfarrer sprach mit ihm, obwohl sie es am Anfang gewesen waren, die ihn überredet hatten, das Amt anzunehmen. Ein Gerücht entstand. Die Menschen flüsterten sich zu, daß es Gatano Spaß machen würde, seine Opfer zu hängen, und man sagte ihm auch nach, daß er nicht mehr an Gott und dessen Gnade glaubte, sondern an den Satan. Der Teufel war sein Vorbild. Satanas, Herr der Hölle, auch Asmodis genannt. Er führte die Hand des Henkers mit einer teuflischen Geschicklichkeit. Die Opfer starben immer. Nie erlebte er einen Reinfall. Dieser Henker war einfach nicht zu stoppen. Es kam die Zeit, wo ihn die Menschen nicht mehr mochten, sie wollten keinen Henker. Wenn jemand zum Tode verurteilt wurde, sollte er erschossen werden. Aber sie wurden ihn nicht mehr los. Um ihn auszuschalten, griffen sie zu einem Mittel, das schon immer geholfen hatte. Sie hetzten ihm bezahlte Mörder auf den Hals. Und die schafften es. Sie brachten den Henker um. In einer dunklen Nacht lauerten sie auf ihn und stachen mit ihren Messern zu. Über zehnmal sollen sie ihm die Klingen in den Leib gestoßen haben. Als der Henker gestorben war, wurden auch die beiden Mörder von den Ehrbaren erschossen, die anschließend zwei Männer suchten, um den Henker zu begraben.«
Nach diesen Worten mußte Tanith/ Lucille erst einmal eine Pause einlegen. Wir alle waren ruhig geworden, bis Bernie auflachte.
»Na und? Was soll der ganze Quatsch? Der Henker ist tot, er bleibt auch tot.«
Die Hellseherin drehte den Kopf und schaute Bernie an. »Nein«, sagte sie. »Du irrst. Nicht alles, was nicht mehr lebt, ist auch tot, denn die beiden Männer hätten ihn weit draußen verscharren sollen, so aber wurde er direkt am Stadtrand von New York begraben. Und diese Stadt wuchs. Sie weitete sich aus. Immer mehr Häuser und Straßen kamen hinzu. Man dachte nicht mehr an den Henker. Wo er begraben lag, entstand ein neuer Stadtteil, wurden Häuser gebaut, und man gab dem Stadtteil später einen Namen: Greenwich Village…«
Allmählich begriff ich. Ich verstand die Tragweite dieser Tat, die die beiden unbekannten Männer vor über 200 Jahren vollbracht hatten. Sie hatten den Henker verscharrt, aber nicht dort, wo er eigentlich hätte liegen sollen.
Tanith/Lucille fuhr fort. »Und sein Grab, Freunde, liegt genau hier!« Jetzt war es heraus.
Judy stieß einen leisen Schrei aus. Sie schaute sich um, als hätte sie Angst, der Henker würde hinter ihr stehen.
Bernie wollte wieder grinsen. Er schaffte es nicht. Sein solariumbraunes Gesicht wurde zur Grimasse, und so blieb er auch sitzen.
»Wo befindet sich das Grab?« fragte ich.
»Unten«, lautete die dumpfe Antwort. »Dieses Haus hat einen tiefen Keller. An einer bestimmten Stelle, nahe der Nordwand kann man sein Grab finden. Da liegt er.«
»Ist er nicht aus dem Spiegel gekommen?« hakte ich nach.
»Nein, nicht er. Es war sein gefährlicher Geist, der den Spiegel verlassen hat. Ihn hatte man auch nicht töten können.«
»Und was geschieht mit dem Geist?«
»Er will zurück in den Körper. Er hat es schon geschafft, ich spüre es.«
»Dann schweben wir alle in Gefahr?«
»Ja, denn er wird sich durch nichts aufhalten lassen und seine furchtbare Rache fortsetzen. Mich wollte er auch töten, und er hat es auch geschafft, denn die Schlinge, die er immer benötigte, um seine Opfer zu erhängen, ist längst nicht verschwunden. Er hat sie mitgenommen, und sie kann sich vervielfältigen. Sie ist immer vorhanden. Durch sie hat er nicht nur eine Schlinge, sondern unzählige.«
»Dann schweben wir in Gefahr?« fragte ich.
»Ja. Wir alle…« Bevor sie noch mehr sagen konnte, begann sie zu würgen. Dann schüttelte sie sich, versuchte krampfhaft, nach Luft zu schnappen, und dazwischen gab sie Worte von sich, die mit ihrem Schicksal eng in Verbindung standen. »Ich konnte mich…noch…retten. In den Körper…hier. Doch ich muß raus, weg, nur weg…kann mich nicht mehr halten. Der Henker wird…«
Tanith brach zusammen. Diesmal war es Tanith, denn aus ihrem Mund drang ein heller Streifen, ein nebelhaftes Gebilde, das wie ein durchsichtiger Schleier über den Tisch quoll und verwehte.
Schwer fiel Taniths Kopf nach vorn. Ich packte sie an den Schultern, rief ihren Namen und schüttelte
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