03 - Auf Ehre und Gewissen
etwas tun würden, Havers. Und ich glaube nicht, daß wir das als gegeben ansehen können.«
»Wieso nicht?«
Lynley überlegte einen Moment, wie er ihr den eigentümlichen Ehrenkodex unter Internats schülern am besten erklären könne. »Weil so etwas nicht vorkommt«, sagte er. »In einer Schule wie dieser gilt die Loyalität der Schüler in erster Linie den Mitschülern und nicht irgendwelchen allgemeinen Verhaltensgrundsätzen. Niemand petzt - niemand verrät einen Mitschüler, der gegen die Schulvorschriften verstößt. - Aber worauf wollen Sie mit Ihrer Frage über Corntel hinaus?«
»Wenn Corntel glaubte, Brian Byrne hätte an dem fraglichen Abend in Erebos Aufsicht gemacht, dann kann das meiner Ansicht nach nur zwei Gründe haben: Entweder erzählte ihm Brian, er hätte Dienst gemacht - was unwahrscheinlich ist, da Brian ja uns gegenüber freimütig zugegeben hat, daß er auf der Fete war -, oder Corntel selbst war nicht im Haus und nahm einfach an, Brian wäre dagewesen.«
»Und wo war Ihrer Meinung nach Corntel?«
Sie antwortete mit Vorsicht. »Die Art und Weise, wie er uns Matthew gestern beschrieben hat, Sir, war doch sehr eigenartig. Irgendwie -«
»Sehnsüchtig? Verliebt?«
»Ja, würde ich sagen. Sie nicht?«
»Vielleicht. Matthew scheint ein sehr hübscher Junge gewesen zu sein. Aber verraten Sie mir mal, wo Sie John Corntel in die Sache verwickelt sehen.«
»Matthew will aus dem Internat weg. Corntel hat einen Wagen. Er hilft ihm bei der Flucht. Wollten Sie nicht selbst darauf hinaus, als wir mit dem Direktor sprachen?«
Lynley starrte in den Aschenbecher. Der beißende Geruch verbrannten Tabaks wirkte wie ein Lockruf, eine Versuchung, der zu widerstehen unmöglich war. Er stieß den Aschenbecher zum Fenster. »Ja, es scheint ihm jemand bei der Flucht geholfen zu haben. Vielleicht war es Corntel. Vielleicht aber auch jemand anders.«
Havers blätterte mit zusammengezogenen Brauen in ihrem Block, hielt inne, um zu lesen. »Warum wollte Matthew weg? Wir dachten anfangs, es hätte damit zu tun, daß er nicht in diese Umgebung paßte. Er kam aus einem ganz anderen Milieu. Wie sollte er da mit diesen Kindern reicher Leute zurechtkommen? Und er kam ja auch nicht zurecht in dieser neuen Welt, oder? Er bekam kalte Füße, als die Morants ihn auf ihren Landsitz einluden. Also beschaffte er sich eine Befreiung und haute ab, weil er bei den Morants nicht als Außenseiter dastehen wollte. Aber dieser Harry Morant, der ihn eingeladen hatte, und der weiß Gott bestens in diesen Cremetopf paßt, machte mir den Eindruck, als würde er am liebsten auch aus der Schule türmen, Sir. Ob er nun zur high society gehört oder nicht. Warum?«
Lynley erinnerte sich an Smythe-Andrews' bittere Worte über die Schule. Er dachte an Arlens' Ohnmachtsanfall. »Vielleicht werden die Kleinen hier terrorisiert.«
Er wußte, daß es Zeiten gegeben hatte, wo so etwas gerade an den privaten Internaten Usus gewesen war. Man nahm sich die neuen Schüler vor und sorgte dafür, daß sie nicht frech wurden und ja nicht vergaßen, daß sie in der Schulhierarchie an unterster Stelle standen. Diese Art der Tyrannei war mittlerweile an allen Schulen strengstens verpönt. Wer einen Mitschüler terrorisierte, mußte mit Schulausschluß rechnen, falls er erwischt wurde.
»Matthew haut also vor einem Brutalo ab, der ihn herumboxt«, sagte Havers. »Er vertraut sich jemandem an, dem er vertraut, und begibt sich damit arglos in die Hände eines Menschen, der noch etwas viel Schlimmeres ist. Ein Perverser. Gott, mir wird ganz schlecht. Der arme kleine Kerl.«
»Es gibt da vielleicht noch andere Gesichtspunkte, Havers. Die Familie scheint recht bescheiden zu leben. Kevin Whateley ist Grabmal-Steinmetz, seine Frau arbeitet in einem Hotel. Um Matthew auf dieses Internat zu bekommen, mußten sie Giles Byrne auf sich aufmerksam machen, Giles Byrne kannte Matthew -«
»Und sucht einen Nachfolger für Edward Hsu, wie Brian uns erzählte. Aber Sie glauben doch nicht im Ernst, daß ein Mitglied des Verwaltungsrats ...« Havers griff nach ihren Zigaretten und zündete sich mit einem entschuldigenden Blick zu Lynley eine an. »Da war doch was!« Sie beugte sich wieder über ihre Aufzeichnungen. Papier raschelte. Auf der anderen Seite des Raums rieb der Wirt den Tresen mit einem ölgetränkten Tuch ab.
»John Corntel sagte uns gestern, daß eines der Mitglieder des Verwaltungsrats in der Schule war, als Mr. und Mrs. Whateley ankamen. Glauben Sie,
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