03 - Auf Ehre und Gewissen
wachsender Beklemmung hörte er den weiteren Ausführungen des Colonel zu.
»Nun, Matthew hatte wenigstens das Glück, daß nur ein Elternteil in diesem blödsinnigen Korsett aus Familienehre und Familientradition steckte.«
»Nur ein Elternteil?« wiederholte Lynley.
Der Colonel nickte. »Die Mutter. Ich habe sie nie kennengelernt, aber der Name Whateley sagt wohl klar, daß der Vater kein Chinese war. Also muß die Mutter Chinesin sein. Wir haben nicht darüber gesprochen. Ich vermute, Matt hatte es deshalb schwer genug an dieser piekfeinen Schule. Da wollte er außerhalb nicht auch noch daran erinnert werden.«
Neben sich auf dem Sofa spürte Lynley Barbaras hastige Bewegung. Er wäre selbst am liebsten aufgesprungen, hätte alle Fenster aufgerissen und wäre zur Tür hinausgerannt. Aber er tat nichts dergleichen. Vielmehr versuchte er, sich das Bild des Kindes vor Augen zu führen, das er auf den Fotografien gesehen hatte, erinnerte sich des dunklen Haars, der Haut, die die Farbe gebleichter Mandeln hatte, der zarten Gesichtszüge, der kohlschwarzen Augen. Die Augen waren groß und rund. Nicht die eines Chinesen. Die eines Spaniers vielleicht. Aber bestimmt nicht die eines Chinesen. Ausgeschlossen.
»Sie wußten nicht, daß Matt Eurasier war, Inspector?« fragte Jean.
Lynley schüttelte den Kopf, mehr aus Verwirrung als zum Zeichen der Verneinung. »Haben Sie ein Foto des Jungen, der Sie besuchte?«
Sie stand auf. »Ich hole eines.«
Nachdem sie gegangen war, sagte der Colonel: »Ich denke, wenn Sie einen Mörder suchen, dann sollten Sie bei den bigotten Spießern anfangen, die den Kontakt mit Menschen, die anders sind als sie selbst, nicht aushalten können. Bei den Ignoranten, die alles, was sie nicht verstehen können, kaputtmachen müssen.«
Lynley hörte die Worte, aber er konnte nichts anderes denken als unmöglich! Unmöglich, daß Matthew Whateley nicht der war, als der er sich von Anfang an gezeigt hatte: Der Sohn Kevin und Patsy Whateleys, Kind einer Familie der Arbeiterklasse, Stipendiat, fleißiger Schüler mit einer Leidenschaft für Modelleisenbahnen.
Jean Bonnamy kam mit der Fotografie zurück, die sie Lynley reichte. Er betrachtete sie und nickte Barbara zu.
»Ja, das ist er«, sagte er und sah wieder das Foto an, das Matthew und den Colonel beim Schachspiel zeigte. Matthews Arm war ausgestreckt, als sei er eben dabei, eine Figur zu setzen, aber sein Gesicht war dem Betrachter zugewandt, und er lächelte so strahlend wie auf dem Foto, das ihn mit seiner Freundin Yvonnen Livesley an der Themse zeigte.
»Ich habe Matthews Eltern kennengelernt«, sagte er zum Colonel. »Sie sind beide keine Chinesen.«
Den Colonel schien diese Neuigkeit nicht zu beeindrucken. »Der Junge war Eurasier«, behauptete er mit Bestimmtheit. »Ich habe fünfunddreißig Jahre lang in Hongkong gelebt. Ich merke es, wenn ich ein Mischlingskind vor mir habe. Für Sie mag Matt wie ein kleiner Engländer ausgesehen haben. Aber jeder, der einige Zeit im Orient gelebt hat, hätte sofort gesehen, daß er Halbchinese war.« Sein Blick glitt zum offenen Kamin und blieb am Kopf des farbenfrohen Drachen hängen. »Es gibt Leute, die alles niedertrampeln müssen, was sie nicht verstehen. So wie man eine Spinne mit dem Fuß tottritt. Nach so etwas sollten Sie Ausschau halten. Nach dieser Art von Gemeinheit und Haß. Nach einem Menschenverächter, für den nur das reine weiße Britannia gilt und alles andere Dreck ist. Schauen Sie sich an der Schule um. Ich könnte mir denken, daß Sie es da finden.«
Eine Menge neuer Gesichtspunkte, die der Überprüfung bedurften. Und eine Reihe neuer Fragen, die angesichts dessen, was Lynley über Matthew Whateleys Familie zu wissen glaubte, der Aufklärung bedurften.
»Hat Matthew mit Ihnen über diese Dinge gesprochen? Über seine Familie? Über Rassismus in der Schule? Schwierigkeiten mit einem Lehrer oder einem Mitschüler vielleicht?«
Der Colonel schüttelte den Kopf. »Er hat höchstens einmal von seinen Noten erzählt. Und auch dann nur, wenn ich danach fragte. Sonst hat er überhaupt nicht von der Schule gesprochen.«
»Aber das Motto, Vater«, warf Jean ein. »Das hast du doch nicht vergessen.« Sie kehrte zu ihrem Sessel zurück und wandte sich Lynley zu. »Matthew hatte irgendwo das Motto der Schule entdeckt - in der Kapelle oder der Bibliothek, ich weiß nicht mehr. Aber er war sehr beeindruckt davon.«
»Ich kenne das Motto nicht«, erwiderte Lynley. »Wie lautet
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