03 - Der Herr der Wölfe
»Wir hatten keine Ahnung, dass du kommen würdest.«
»Aber ich habe Melisande den Zeitpunkt meiner Ankunft mitgeteilt.«
»Dann muss es sich um ein Missverständnis handeln.« Erin runzelte die Stirn. »Vor einer Woche ist sie mit Daria und Bryce nach Wessex zu Erics Festung gesegelt. Offensichtlich hat sie deine Botschaft nicht erhalten.«
Heller Zorn ließ das Blut in seinen Ohren rauschen. »Doch, Mutter, ganz bestimmt.«
»Dein Vater und ich gaben ihr die Erlaubnis zu dieser Reise. In der Obhut deiner Geschwister kann ihr nichts zustoßen. Sie werden nicht einmal in die Nähe der fränkischen Küste geraten.«
»Schon gut. Gewiss wird Eric gut auf sie aufpassen.«
»Es tut mir wirklich leid, Conar. Sie lebt nun schon so lange bei uns, dass ich sie fast wie eine Tochter liebe. Und als sie erklärte, wie gern sie Alfreds England kennenlernen würde, sahen wir keinen Grund, ihr diesen Wunsch abzuschlagen. Natürlich werde ich Eric sofort benachrichtigen und ihn bitten, deine Frau zurückzubringen.«
Conar schüttelte den Kopf. »Bemüh dich nicht, ich hole das Mädchen selbst. Vielleicht will Bryan mit mir segeln, denn hier dürfte im Augenblick alles unter Kontrolle sein. Morgen früh reise ich ab.« Er küsste die Stirn seiner Mutter und wandte sich zum Gehen, aber ihre sanfte Stimme hielt ihn zurück.
»Sie ist kein Mädchen mehr, sondern eine Frau. Das solltest du bedenken.«
»Natürlich, Mutter. «
Ob Mädchen oder Frau - er glaubte nicht, dass sich irgendetwas zwischen ihnen verändert hatte. Oder doch?
***
Während er die Küste von Wessex ansteuerte, überlegte er immer noch, ob Melisande seine Nachricht, erhalten hatte. Wahrscheinlich schon. Und um auf ihre ganz besondere Weise zu antworten, war sie einfach verschwunden.
»Streicht die Segel!« befahl er seinen Männern und hörte wenig später, wie die flatternden Planen eingeholt wurden. Er stand im Bug seines Drachenschiffs und betrachtete die Festung seines Bruders, die immer näher rückte. Eric eilte zur Küste herab, um ihn zu begrüßen, begleitet von seiner Frau Rhiannon und den Kindern. Auch Bryce und Daria erschienen und winkten begeistert. Alle waren versammelt, das Gefolge und viele alte Freunde. Nur Melisande fehlte.
Mühsam unterdrückte Conar seinen Zorn. Wo zum Teufel mochte die kleine Hexe stecken? Aber er würde sie finden - und sie zwingen, ihn gebührend zu begrüßen.
Kapitel 10
»Er ist da.«
Bestürzt sprang Melisande auf. Sie hatte am Flussufer mit nackten Füßen im kühlen Wasser gesessen und den schönen Sommernachmittag genossen.
Sie war nicht allein hierhergekommen. Gregory von Mercia, ebenfalls Erics Hausgast, leistete ihr Gesellschaft ein hübscher Junge, ein Jahr älter als sie mit kastanienbraunem Haar und freundlichem Lächeln. Unermüdlich bemühte er sich um Melisande. Sie ritten miteinander aus, gingen auf die Jagd und führten lange Gespräche. Manchmal schwiegen sie einträchtig, so wie jetzt am Wasserrand.
Solche stillen Augenblicke wusste sie zu schätzen, denn dann konnte sie ihrer Phantasie freien Lauf lassen. Auch diesmal schwelgte sie in angenehmen Tagträumen, bis sie von Mergwin gestört wurde, dem sonderbaren Mann, der ein enger Freund des verstorbenen irischen Ard-Righs gewesen war.
Melisande hatte gedacht, vorerst würde Conar nicht zu ihr kommen, sondern nach seiner Ankunft in Dubhlain beschließen, das Wiedersehen noch eine Weile hinauszuschieben und sich seinen Seelenfrieden etwas länger zu erhalten. Wie schade, dass sie sich getäuscht hatte - ausgerechnet jetzt, wo sie zum ersten Mal seit Jahren wieder Freude am Leben fand, sogar an so einfachen Dingen wie diesen beschaulichen Stunden am Fluss …
Er strömte außerhalb der Festungsmauern dahin, und niemand fand es unschicklich, wenn sie mit Gregory hierherritt, denn er war ein vorbildlicher junger Edelmann, der ihr nie zu nahe trat. Nicht einmal Eric, der Schlossherr, hatte etwas gegen diese Ausflüge einzuwenden.
Er ähnelte seinem Bruder Conar geradezu unheimlich, und bei der ersten Begegnung war Melisande erschrocken zusammengezuckt.
Aber dieser Sohn des norwegischen Wolfs war von viel sanfterem Gemüt als Conar. Höflich hatte er sie in seinem Haus begrüßt, lächelnd die Brauen gehoben und sich gewundert, warum um alles in der Welt sein Bruder in Frankreich blieb und seine Frau hierherschickte.
Hastig erklärte Melisande, Conar habe sie nicht zu ihm gesandt. Daria habe ihr angeboten, sie mitzunehmen.
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