03 - Der Herr der Wölfe
dem Bischof, sie würde pausenlos über den Willen Gottes nachdenken.
Oft ritt sie neben Marie, manchmal auch an Genevieves Seite, fand aber meistens Mittel und Wege, der frommen Dame bald wieder zu entrinnen.
Verstohlen beobachtete sie Conar. Immer noch suchte er die Gesellschaft Brennas, die ihn viel besser kannte als seine Frau.
Endlich trafen sie in Rouen ein. Am nächsten Morgen sollte die feierliche Zeremonie stattfinden. Odo besaß in der Stadt ein großes Haus mit umfangreicher Dienerschaft, wo alle vornehmen Gäste untergebracht und bestens betreut werden konnten.
Abends saßen Melisande, Genevieve, Odo und Swen sowie einige andere Damen und Herren in der Halle vor dem Kamin, während Brenna ihre Runen aus einem Lederbeutel schüttete - schöne, blankpolierte Steine mit kunstvoll eingravierten Symbolen.
Melisande nippte an ihrem Wein und verfolgte das Geschehen mit einer Faszination, die sie selbst verwirrte, denn meistens wahrte sie Abstand zu Brenna. Zunächst prophezeiten die Runen einer jungen Frau, sie würde bald heiraten und viele Kinder bekommen. Errötend murmelte Genevieve, sie glaube nicht an so heidnische Weissagungen. Dann wurden die Steine für sie geworfen, und sie fragte: »Nun, erblickt Ihr auch für mich einen Ehemann, Seherin?«
Nach kurzem Zögern erwiderte Brenna: »Ihr werdet das fromme Leben führen, das Ihr Euch wünscht, werte Dame, als Braut Christi.«
»Also werde ich in ein Kloster eintreten?«
»Ja«, bestätigte Brenna leise, und Genevieve lächelte zufrieden, trotz ihrer anfänglichen Skepsis.
»Jetzt werft für mich die Runen, gute Frau«, bat Odo und neigte sich zu Brenna hinab.
Sie saß auf einem Bärenfell am Boden. Hinter ihr knisterte das Feuer, das blonde Haar lag wie ein glänzender Umhang um ihre Schultern, und die Farbe ihrer Augen wechselte zwischen Grün und Blau, während sie die Steine studierte. »Mein Herr, Ihr werdet in die Geschichte Eures Landes eingehen und oftmals zwischen dem Leben und dem Tod der Stadt stehen, die einmal zu den größten der Welt zählen wird. Ich rate Euch - seid stark, haltet Euch an die Verbündeten, deren Weisheit und Kraft Eure Tugenden ergänzt und die Euch stets die Treue halten werden.«
»Eine schöne Prophezeiung!« meinte Odo erfreut, dann legte er eine Hand auf Melisandes Schulten »Und jetzt diese Dame … «
»Nein!« protestierte sie hastig.
»Wenn Ihr es nicht wünscht, werde ich keine Runen für Euch werfen«, versprach Brenna.
»Es ist doch nur Spaß!« rief Odo. »Die Kirchenmänner sitzen stumm herum, die haben morgen ihren großen Tag. Heute abend amüsieren wir uns auf andere Art. Werft für Melisande die Runen, Brenna!«
»Meine Dame?« Brenna schob die Steine in den Beutel und schaute fragend zu Melisande auf, die mit den Schultern zuckte.
»Also gut.«
Die Runen fielen zu Boden, und plötzlich schien das Feuer heller emporzulodern. Brenna zeigte auf ein Symbol, das einem X glich. »Es heißt Gebo und bedeutet das Geschenk der Zweisamkeit. Ein passendes Zeichen für diesen Abend. Doch es steht auch für Freiheit, von der alle guten Gaben stammen. Die echte Gemeinschaft zwischen Mann und Frau wird von Geben und Nehmen bestimmt.« Sie zauderte, dann wies sie auf einen anderen Stein. »Vielleicht droht Euch Gefahr, Melisande. Hagalaz
kündigt zerstörerische, elementare Kräfte an, einen Aufruhr den Götter oder Menschen heraufbeschwören. Seid vorsichtig … «
»Meine Frau scheint ständig *in Gefahr zu schweben.«
Erschrocken zuckte Melisande zusammen, drehte sich um und sah Conar hinter sich stehen. Seine Ankunft verwirrte offensichtlich auch Brenna. Soeben hatte sie auf eine weitere Rune hinweisen wollen. Aber nun packte sie sämtliche Steine in ihren Beutel.
Dann blickte sie zu Melisande auf. »In Wirklichkeit gestalten wir alle selbst unser Schicksal. Die Runen warnen uns nur vor den Hindernissen, die uns den Weg versperren könnten. Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen würdet - ich bin müde und möchte mich zurückziehen. «
Anmutig stand sie auf und entfernte sich. Conar folgte ihr, hielt ihren Arm fest, und Melisande erriet, dass er nach der letzten Prophezeiung fragte. Aber Brenna schüttelte nur den Kopf. Da ließ er sie los und kehrte zu seiner Frau zurück. »Es ist spät, meine Liebe. Ich werde dich nach oben zu deinem keuschen Schlafgemach geleiten.«
»Aber ich … «
»Es ist spät«, wiederholte er, umfasste ihren Ellbogen und dankte Odo für die Gastfreundschaft. Dann führte
Weitere Kostenlose Bücher