03 Göttlich verliebt
An seinen Vorderbeinen klebte Blut. Dieser widerliche Anblick ließ Helen schaudern.
»Wir haben noch nichts gehört«, sagte Claire mit einem Schulterzucken. »Jedenfalls nichts von diesem ›Zorn-der-Götter‹-Kram.«
»Was hat Cassandra vorhergesehen?«
»Nichts. Sie hat gar nichts prophezeit, seit ihr drei hergebracht wurdet.«
Helen presste nachdenklich die Lippen aufeinander. Ausgerechnet jetzt, wo die Scions ihr Orakel am Dringendsten brauchten, verstummte es. Aber das war bei griechischen Tragödien eben so. Trotzdem beunruhigte es Helen. Griechisch oder nicht, es musste einen Grund dafür geben, dass Cassandra die Zukunft nicht sehen konnte. »Weil das eben so ist«, ließ Helen als Antwort nicht mehr gelten.
»Len?«, murmelte Claire, und ihre Stimme war kaum mehr als ein verängstigtes Flüstern. »Kannst du die Götter aufhalten?«
»Ich weiß es nicht, Gig.« Helen musterte ihre beste Freundin. Claire war vor lauter Angst und Schlafmangel ganz blass. »Aber wenn einer von denen versucht, uns etwas anzutun, werde ich sie mit allem bekämpfen, was ich habe.«
Claire lächelte und entspannte sich endlich ein wenig. »Und jetzt iss deine Suppe«, befahl sie plötzlich, als wäre es ihr gerade erst eingefallen.
Helen gehorchte kichernd. Sie war froh, dass Claire wie gewohnt den Boss herauskehrte, und griff gehorsam nach dem Löffel, während sie weiter über die Götter nachdachte. Bisher hatten sie wohl noch keine Berggipfel niedergerissen, aber sie waren bestimmt schon unterwegs. Nach vielen Tausend Jahren Gefangenschaft befanden sie sich sicherlich bereits auf der Erde. Nur wo? Die Scions waren schwach und überall verstreut. Wenn die Götter gegen sie kämpfen wollten, wäre jetzt der ideale Zeitpunkt für einen Angriff. Worauf warteten sie? Helen schluckte ein paar Löffel Suppe und merkte erst dann, dass Claire sie mit großen Augen anstarrte.
»Was ist los?«, fragte Helen mit vollem Mund.
»Du hast den Löffel nicht aufgehoben«, antwortete Claire und ließ Helens Hand keine Sekunde aus den Augen. »Du hast nur die Hand ausgestreckt und er ist hineingeflogen.«
Helen betrachtete den Löffel und versuchte, sich daran zu erinnern, wie sie ihn in die Hand genommen hatte. Sie wusste, dass sie die Hand danach ausgestreckt hatte, aber das war es dann auch schon. Sie legte den Löffel hin und hielt die Hand darüber, doch es passierte nichts.
»Ich glaube, du solltest wieder ins Bett gehen, Gig«, bemerkte Helen mit einem zweifelnden Lächeln.
»Ja, vielleicht hast du recht«, sagte Claire, doch überzeugt sah sie nicht aus.
Nachdem Helen ein Riesenfrühstück vertilgt hatte, half Claire ihr wieder nach oben und unter die Dusche. Während Helen die Reste von Schmutz und Blut von sich abschrubbte, hockte Claire auf dem Rand der Badewanne und verteilte gedankenverloren Bodylotion auf ihre Beine und Füße, nur um in der Nähe zu sein, falls Helen schwindelig wurde.
»Bist du sicher, dass du keine Hilfe brauchst?«, fragte sie zum zehnten Mal.
»Ich bin sicher«, beteuerte Helen lachend beim Abtrocknen. »Es geht mir gut, ehrlich.«
»Du bist wirklich die Stärkste von allen, stimmt’s?«
Helen schaute weg. Obwohl sie und Claire nach dem Sport schon unzählige Male zusammen geduscht und keinerlei Schamgefühl voreinander hatten, fühlte sich Helen plötzlich nackt. Sie wollte nicht, dass Claire sie für … nun, für eine Halbgöttin hielt. Sie waren mehr als nur beste Freundinnen. Sie waren Schwestern, und Helen wollte nicht hören, dass es etwas gab, das sie voneinander unterschied.
»Wieso sagst du das?«, fragte sie betroffen. Claire schürzte die Lippen.
»Du solltest nach den Jungs sehen, wenn du hier fertig bist.«
»Erst gehe ich zu meinem Dad«, widersprach Helen mit einem entschiedenen Nicken.
Claire half Helen beim Anziehen und stützte sie dann beim Gang über den Flur. Die Tür stand offen, und sie konnte Jerry im Bett liegen sehen und auch Kate, die daneben in einem Sessel saß. Beide schliefen. Jerry war so dünn und ausgezehrt, dass Helen nicht glauben wollte, dass das wirklich ihr Vater war. Sie musste sich immer wieder ermahnen, dankbar zu sein, dass er noch lebte, aber es war schwer, etwas anderes als Angst zu empfinden, wenn er so krank aussah.
Sie gingen die paar Schritte weiter zu Hectors Zimmer. Helen konnte hinter der Tür mehrere tiefe Stimmen hören. Es klang, als wäre die ganze Mannschaft dort versammelt. Sie klopften an und stellten überrascht fest, dass
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