0302 - Der Unhold
aufhalten wird?«
»Wenn er unsere Familie aufs Korn genommen hat.«
»Ihr Vater ist doch tot, wie sie sagten.«
»Sicher…«
Ich schaute sie an. Sehr überzeugt sah sie mir nicht aus. Es lag auf der Hand, daß sich La Bandita in dieser unheimlichen Umgebung überhaupt nicht wohl fühlte. Dabei waren die Toten wirklich die einzigen, die einem Menschen nichts taten.
Vorausgesetzt, man hatte es nicht mit Zombies zu tun. Mit lebenden Toten also.
»Wo liegt er denn begraben?« wollte Suko wissen.
»Am Ende des Friedhofs. Ich muß ehrlich gestehen, daß ich das Grab lange nicht mehr besucht habe. Deshalb ist es mühsam für mich, es zu finden.«
»Suchen wir es trotzdem.«
Wir waren bisher auf dem Hauptweg gegangen. Den verließen wir nun, betraten einen schmalen Seitenpfad und sahen nur an der linken Seite Gräber. Rechts von uns wuchs eine dichte Hecke, die in der Dunkelheit wie ein großer Schatten wirkte. Als ich daran entlang strich, bemerkte ich die Dornen in der Hecke, die über meine Kleidung kratzten.
»Können Sie mal leuchten?« bat Claudia.
Wir taten ihr den Gefallen. Dünn sahen die beiden Lichtfinger aus, als sie sich über dem Boden bewegten, Gräber berührten und sich weiter tasteten, bis Claudia plötzlich »Halt!« sagte.
Die Lichtfinger kamen zur Ruhe.
»Da ist das Grab. Ja, das muß es sein.«
Wir gingen näher, waren sehr vorsichtig und behutsam und hörten Claudias erschreckten Schrei.
Die Lichtfinger begannen zu tanzen, als wir uns schneller bewegten. Jetzt sahen wir das Grab auch und wußten, aus welchem Grunde La Bandita so aufgeschrieen hatte.
Das Grab war aufgebrochen!
Man hatte auch für Claudias Vater einen Grabstein besorgt.
Durch die aufgewühlte Erde war er ein wenig gekippt und stand jetzt schief auf dem weichen Untergrund.
Die Erde mußte jemand von unten her aufgewühlt haben. Sie war in die Höhe geworfen worden und dabei zu beiden Seiten des Grabs auf den Weg gerollt, wo sich kleine Hügel gebildet hatten.
Es hatten auch Blumentöpfe und eine Schale auf dem Grab gestanden. Sie waren ebenfalls umgefallen und hatten ihren Platz auf den frischen Erdhügel gefunden.
Ich warf einen Blick auf Claudia.
La Bandita stand auf der Stelle wie angewachsen. Sie hatte eine verkrampfte Haltung eingenommen. Den Mund wie zum Schrei aufgerissen, die Hände geballt. Nur langsam öffnete sie die Fäuste, und die Arme sanken in demselben Tempo nach unten.
»Jemand muß ihn herausgeholt haben«, flüsterte sie.
Da war ich nicht so sicher. Wir hatten Erfahrungen mit Zombies gesammelt und schon öfter erlebt, daß sie ein Grab auch ohne fremde Hilfe verlassen konnten.
Der Vater dieser Frau mußte zu einem Zombie geworden sein.
Eine andere Möglichkeit gab es für mich nicht.
Ich sah, daß Claudia etwas sagen wollte und nickte ihr aufmunternd zu. »Reden Sie, bitte!«
»Si, si…« Sie holte noch einmal Luft. »Es … es ist so schrecklich, so unwahrscheinlich. Ich hatte ja nicht darüber sprechen wollen. Doch jetzt, wo ich das Grab sehe, muß ich es einfach loswerden.«
»Und was ist es?«
Claudia Corelli senkte den Kopf und starrte auf ihre Schuhspitzen. »Ich habe das Monstrum auf dem Schiff gesehen und auch später in der Gasse. Und da ist mir etwas aufgefallen. Und zwar im Gesicht.«
»Was denn?«
»Das Gesicht des Unholds, es… es kam mir bekannt vor. Die Züge hatten Ähnlichkeit mit denen meines Vaters!«
Das war ein Klopfer.
Mit allem hatten wir gerechnet, nicht mit dieser Erklärung. Suko und ich schauten uns an, schüttelten die Köpfe, und der Chinese wandte sich an La Bandita. »Sind Sie sicher, Claudia?«
»Leider.«
Der Fall wurde immer verzwickter. Ich verstand ihn einfach nicht. Zu viele Schleier lagen noch über dem Geheimnis, und ich fragte mich, ob wir sie jemals fortziehen konnten.
»Dann ist ihr Vater also das Monster«, flüsterte ich.
Sie nickte. »So könnte es sein.«
Suko dachte in diesen Augenblicken praktischer. »Gibt es hier irgendwo einen Spaten?«
Claudia überlegte. Wir sahen ihr an, daß sie mit ihren Gedanken woanders war, und der Chinese mußte seine Frage wiederholen.
Erst dann bekam er eine Antwort.
»Ja, es gibt hier Werkzeuge. In einer kleinen Hütte müssen sie stehen.« Sie deutete nach rechts.
Suko setzte sich in Bewegung. Claudia und ich blieben zurück.
Kaum war Sukos Gestalt mit der Dunkelheit verschmolzen, als ich das Weinen der Frau hörte.
Als Anführerin einer Bande hatte sie sich durchgesetzt. Hier aber
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