0320 - Der Fluch von Babylon
schlimmste Folter ertragen. In dieser Nacht soll er getötet werden. In der vergangenen Nacht bin ich ihm erschienen und habe ihn in meinen Plan eingeweiht. Er wird eingehen in das Ewige Reich, aber nicht durch die Hand seiner Feinde, sondern durch mich. Ich hole ihn zu mir, denn in den Schriften des Schicksals steht, daß sein Name in der folgenden Nacht von der Liste der Lebenden gestrichen wird. Er hat zusammen mit seiner Frau in einer anderen Kammer gelebt, getrennt von den übrigen Gefangenen, aber auch gefürchtet, denn er duckte sich nie und durfte seine Waffen behalten. Auch auf dem letzten Weg soll er sie mitnehmen, nur wird er es nicht sein, der geht, sondern du, Sohn des Lichts. Du mußt dir seine Rüstung überstreifen, auch wenn es dir schwerfällt. Erst wenn du sie alle getäuscht hast, kannst du kämpfen, dann stell dich gegen Okastra und vernichte ihn.«
»Was ist mit seiner Frau?«
»Judith weiß Bescheid. Auch sie muß den Weg alles Irdischen gehen. Mein Volk hat viel zu leiden, doch es wird die Befreiung kommen, wie du aus der Geschichte weißt.«
Ja, das wußte ich in der Tat. Die babylonische Gefangenschaft dauerte nicht ewig.
»Hast du alles verstanden, Sohn des Lichts?«
»Ja.«
»Dann überlasse ich dich den Schwingen des Geistes und den Helfern des Lichts. Stell dich gegen das Böse, vernichte es, aber sei vorsichtig, die Zukunft wird…«
Es waren die letzten Worte, die Hesekiel sprach. Wenigstens die, die ich verstand.
Danach umfing mich das Nichts…
***
Ihr Haar war dunkel wie das Gefieder eines Raben. Die Haut hell, fast weiß. In ihrem langen Gewand erinnerte sie an Schneewittchen aus dem gleichnamigen Märchen.
Aber sie hieß nicht Schneewittchen, sondern Judith und saß an der Bahre ihres sterbenden Mannes.
In den letzten Stunden hatte sie von dem gewaltigen Plan gehört, den der Geist des Hesekiel zusammen mit Gideon geschmiedet hatte. Und er zeigte sich einverstanden.
Er wollte sterben, damit andere Leben konnten und ein gräßlicher Fluch genommen wurde.
Judiths Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. Manchmal rannen sie auf das schweißnasse Gesicht des Sterbenden. Er lag in der Zelle, ohne Hoffnung auf ein weiteres irdisches Leben, aber mit der Gewißheit, im Jenseits mit offenen Armen empfangen zu werden und den zu sehen, für den er gelebt hatte.
Der Raum war klein, in den man die beiden gesteckt hatte. Judith trug einweißes Gewand. Es hatte im Laufe der Zeit seine Farbe verloren und war starr vor Schmutz.
Auf der Strohbahre lag Gideon. Er trug noch seine Rüstung, denn in ihr wollte er sterben. Auch die Waffen hatte man ihm gelassen, die Babylonier achteten Krieger wie ihn. Nach ihrem Glauben mußten Männer wie Gideon als Kämpfer sterben.
Der Tag war längst vergangen. Durch das viereckige Loch unter der Decke fiel kein Licht mehr, sondern der flackernde Widerschein des auf dem Hof brennenden Feuers. Er schuf ein gespenstisches Licht, daß auch über die Gesichter der beiden Menschen tanzte.
Gideon sah die Tränen seiner Frau. Er versuchte, die Hand zu heben, allein, er war zu schwach.
»Du mußt nicht weinen«, flüsterte er. »Es ist alles so vorbestimmt. Uns wird es gutgehen, denn ich weiß daß du mir noch in dieser Nacht folgen wirst, Frau.«
»Ja, ich will auch sterben.«
»Aber vorher müssen wir das erledigen, was uns der große Hesekiel aufgetragen hat. Du hast damals gesehen, wie er das Kreuz schmiedete und uns berichtete, daß es einmal der Sohn des Lichts tragen würde. Erinnerst du dich?«
»Sehr gut sogar.«
»Und dieser Sohn des Lichts wird zu uns kommen. Wenn ich sterbe wird er an deiner Seite sein und dem Dämonenpack die Zähne zeigen. Er hat das Kreuz, es gehört ihm, meine Liebe. Du brauchst keine Angst mehr zu haben.«
»Die habe ich auch nicht.«
»Dann ist es gut, Judith. Es ist…« Plötzlich veränderte sich der Blick des Mannes. Er wurde seltsam glänzend, und Judith, die diese trotz des schlechten Lichts sah, hob die Arme und ballte krampfartig die Hände zu Fäusten.
»Man ruft mich…« Die Stimme des Mannes erinnerte nur mehr an einen Hauch. »Er ruft mich …«
»Ist es Hesekiel?«
»Ja…« Noch einmal holte Gideon tief Luft. Sein Gesicht zeigte plötzlich einen verklärten Ausdruck. Mit leiser, für ihn jedoch lauter Stimme rief er: »Ich komme …«
Es waren seine letzten Worte. Danach starb der große Kämpfer namens Gideon.
Obwohl seine Frau Zeit gehabt hatte, sich innerlich auf den Tod des Mannes
Weitere Kostenlose Bücher