0325 - Die Loge der Henker
als sie sah, wie der Mann ihr gegenüber die Flinte anhob und zielte. Sie zerrte und riß an ihren Fesseln. Aber die Stricke hielten stand. Und aus den Augen der Bauern schimmerte die Gnadenlosigkeit von Richtern, die ein Todesurteil vollstrecken lassen.
In diesem Moment schob sich eine dürre, ausgemergelte Gestalt durch die Menge. Er trug die braune Kutte eines Mönchs. Die Kapuze war zurückgeschoben und die Tonsur durch schlohweißes Haar verdeckt. Ein langer Bart, der bis zum Gürtel hinabwallte, glich einem vereisten Wasserfall.
»Aufhören!« schrie er mit lauter Stimme. »Dios, seid ihr wahnsinnig geworden, ihr Narren. Was wollt ihr tun?«
Dagmar Holler sah, daß das Eintreffen des Mönchs die Lage schlagartig änderte. Die Bauern wichen scheu zurück und senkten ihre Blicke. Der Mönch ging zu dem Schützen und nahm ihm das Gewehr aus der Hand.
»Padre Domingo!« flüsterte es ringsum. »Padre Domingo!«
»Wer hat euch geboten, euch zu Richtern aufzuschwingen?« donnerte Padre Domingo die Menge an. »Weshalb wollt ihr das Mädchen erschießen?«
»Sie ist ein Werwolf. Der Werwolf, der in der letzten Nacht den armen Escamillo getötet hat!« stieß der Mann mit dem Gewehr hervor.
»Ich habe eine Silberkugel geladen und…!«
»… und ihr habt nichts von den Predigten gelernt, die ich euch gehalten habe!« schnitt ihm der Padre das Wort ab. »Ihr seid nicht befugt, den Teufel anders zu bekämpfen als mit Gebeten. Wann werdet ihr das jemals begreifen!«
»Aber der Werwolf letzte Nacht…!« stieß ein anderer Bauer hervor.
»Kann ein ganz gewöhnlicher Wolf gewesen sein!« Padre Domingo ließ keinen Widerspruch zu. »Nichts ist bewiesen, daß es einen Werwolf gibt. Schneidet sie los, sofort!«
Die Meute duckte sich. Ein Mann wurde vorgeschoben. Ein Messer blitzte und Dagmars Fesseln fielen zerschnitten zu Boden. Sie massierte sich die Handgelenke und ging zu dem Padre, der ihr winkte.
»Sie müssen hier weg, Señorita!« zischte er ihr zu. »Diese Menschen sind unberechenbar. Haben Sie Gepäck?«
»Ist alles in meinem Wagen, der einige Kilometer von hier entfernt liegen geblieben ist!« sagte Dagmar. »Ich hatte letzte Nacht eine Panne und bin bis hierher gelaufen!«
»Das hätte übel ausgehen können, wenn der Mob sie in der Nacht gefangen hätte!« stieß der Padre hervor. »Und wenn ich nicht zufällig hier durchgekommen wäre, um die Beichten zu hören und den Bauern heute nachmittag eine Messe zu lesen, dann wäre das Ihr Tod. Kommen Sie mit mir. Ich bringe Sie von hier fort!«
Er nahm Dagmar Hollers Arm und zog sie aus der Gaststube. Vor der Cantina stand ein uralter Geländewagen.
»Steigen Sie ein, Señorita, und sagen Sie mir, wo ihr defektes Auto ist!« rief er dem Mädchen zu. »Vielleicht können wir ihn nach Roncesvalles abschleppen. Dort ist eine Werkstatt!« Dagmar Holler nickte dankbar. Der Padre fuhr an und beide spürten die Blicke der Dorfbewohner hinter sich im Rücken wie glühende Nadeln.
Es gelang ihnen, den Wagen mit einer Schleppstange nach Roncesvalles zu bringen und für die Leute in der Werkstatt bedeutete es kein Problem, dem Reservereifen wieder Luft zu geben. Danach war der Polo wieder fahrbereit.
Dagmar Holler lud den freundlichen Padre zum Dank auf ein Glas Rotwein ein. Nachdem sie ihre Einladung mehrfach wiederholt hatte, konnte Padre Domingo nicht mehr ablehnen.
Das Gespräch, das sich anbahnte, drehte sich natürlich um die Leute von Estradas und die Geschehnisse der letzten Nacht.
»Sie dürfen den Menschen nicht böse sein, Señorita Holler!« sagte Padre Domingo. »Sie sind seit ihrer Kindheit mit diesem schrecklichen Aberglauben aufgewachsen. Sie kennen es nicht anders!«
»Aber ich weiß, daß es diese Schreckensgestalten wirklich gibt!« stieß Dagmar hervor.
»Der Teufel hat viele Gesichter und viele Gestalten!« nickte der Padre. »Aber woher wollen Sie wissen, daß die Werwolflegende auf Tatsachen beruht? Sie sind eine moderne, junge Frau und kommen aus Deutschland. Außerdem sind Sie in einer Großstadt zu Hause. Wie kommen Sie dazu, Dinge, die jenseits aller Realität liegen und sich nicht logisch erklären lassen, anzuerkennen?«
»Ich kenne Professor Zamorra!« erklärte Dagmar Holler.
»Den Parapsychologen aus Frankreich?« fragte Pedro Domingo mit hochgezogenen Augenbrauen. Dagmar Holler nickte.
»Dann kennen Sie wahrscheinlich den einzigen Mann, der hier helfen kann!« sagte Padre Domingo. »Denn ich fürchte, es gibt hier
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