0330 - Der Seelenwächter
nur unter dem Mikroskop für unser Auge sichtbar wird. Wärme erkennen – und Wärme aufnehmen.
Nahrung erfühlen – und Nahrung aufnehmen.
Wärme und Nahrung – Nahrung und Wärme. Da machte Sordales keinen Unterschied. Er brauchte beides nicht, um zu existieren. Aber er empfand es als sehr angenehm.
Auch jetzt waren diese Gefühle wieder zu verspüren…
***
Mit einem mongolischen Fluch versuchteWang vergeblich, das schwarze Schwert aus der Gallertmasse herauszureißen.
Wang Lee Chan brüllte, als er den Seelenfresser nicht frei bekam.
»Mach voran!« hörte er hinter sich Leonardo de Montagne unwillig murren. »Wir haben es eilig!«
»Das Schwert – es ist fest, hoher Herr!« knirschte Wang. »Das ist Zauberei!«
»Unmöglich!« knirschte Leonardo. »Streng deine Kräfte an!«
Wang rollte mit den Augen. Er legte die zweite Hand an den Schwertgriff.
Warum im Namen der dunklen Götzen, die Dschingis Khan anrief, bewegte sich das Biest nicht und kämpfte? Die Masse lag vollkommen still. Und trotzdem wußte Wang Lee Chan, daß die Kreatur nicht besiegt war.
Sie kämpfte auf andere Art. Vorerst hielt sie ihm mit ihrer Körpersubstanz das schwarze Schwert fest. Wang wußte nicht, daß er sich noch mehr fesselte, als er die zweite Hand auf den Griff legte, um die Waffe frei zu zerren.
Und er stachelte durch diese zweite Berührung die Instinkte des Sordales noch viel mehr an. Denn jetzt war die Körperwärme des Mongolen noch intensiver zu spüren.
»Ich… schaffe… es nicht… Herr!« keuchte Wang Lee Chan, während ihm der Schweiß über die kahlrasierte Stirn in Sturzbächen herablief.
»Das Schwert steckt fest!«
»Dann laß es fahren, du Narr!« grollte Leonardo de Montagne. »Hier unten müssen wir uns anders helfen. Wenn wir zurück sind, werde ich eine andere Waffe schmieden und… !«
Der Fürst der Finsternis wurde unterbrochen. Denn in diesem Moment gellte ein Schrei aus dem Rachen des Mongolen, wie er ihn sicher noch niemals ausgestoßen hatte. So schreit ein Wolf, der in der Schlinge gefangen ist und sein unausweichliches Ende erkennt.
»Ich komme nicht los! Ich kann die Hände nicht vom Schwert lösen!« heulte er entsetzt auf. »Ich bin festgebannt. Und da ist etwas, das an mir zu saugen beginnt!«
***
»Herr! Das ist unsere Chance!« zischte Eysenbeiß dem Fürsten der Finsternis zu. »Während sich das Wesen mit Wang beschäftigt, beachtet es uns nicht. Versuchen wir, uns an ihm vorbei zu stehlen!«
»Ha, dieser niederträchtige Verräter!« heulte Wang, dessen feines Gehör die Worte vernahm. Das war typisch für diese schleichende Natter, die nur ihren Vorteil kannte. Er hatte weder Ehre noch kannte er Gefühle, wenn es um Dinge ging, die ihm ganz persönlich Nutzen brachten.
Auch Leonardo hörte diese Worte. Er zauderte einen Augenblick und wog ab. Eysenbeiß hatte sicher recht. Was bedeutete Wang Lee Chan schon für ihn? Es gab viele ausgezeichnete Kämpfer in der Geschichte der Menschheit. Eine Kleinigkeit für Leonardo, sich einen neuen Diener aus der Vergangenheit zu holen, wenn sie zurück waren.
»Hilf mir, Herr!« schrie Wang. »Hör nicht auf diese Ratte!«
Der Mongole spürte, wie etwas durch die Substanz des Schwertes in ihn eindrang. Oder nahm es etwas von ihm fort? Genau war das nicht zu erfühlen.
Absaugen von Wärme – Einströmen von Kälte. Wang Lee Chan konnte das Gefühl, das seinen Körper durchschauerte, nicht erklären. Aber er hatte Angst davor – hündische Angst, wie nie zuvor in seinem Leben.
Für ihn war der Tod der ständige Begleiter seines Wandelns. In der Zeit des Dschingis Khan, wo Gewalt und Heimtücke regierte, überlebte nur der Kämpfer mit der schnelleren Klinge, dem stärkeren Arm und dem skrupelloseren Herzen. Niemand, der die Sonne am Morgen golden im Osten emporsteigen sah, wußte ob er sie am Abend wieder im unendlichen Grasmeer im Westen versinken sehen würde. Auch an der Seite des Höllenherrschers war Wang Lee Chan sterblich, obwohl er unter bestimmten Voraussetzungen einen gewissen Grad der Unverwundbarkeit erreichen konnte.
Doch was ihm jetzt bevorstand, war schlimmer als der Tod.
Ein Leertrinken der körperlichen und seelischen Substanz. Das war es, was Wang Lee Chan bevorstand.
»Gedenke meiner Treue, Herr, und rette mich!« bettelte der Mongole.
»Er nützt euch nichts mehr in diesem Leben – so laßt uns seinen Tod nützen!« krächzte Magnus Friedensreich Eysenbeiß.
»Die Katze – und die Ratte!« dachte
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