0336 - Nachts sind alle Gangster grau

Dabei hatte er keine Sekunde vermutet, dass wir lebendig wieder ans Tageslicht kommen würden, Mr. High schmunzelte zufrieden, als Orlando nach seinem Geständnis wieder in die Zelle zurückgeführt wurde. Diesmal konnte ich mir die Frage nicht mehr verbeißen, die mir schon eine ganze Weile auf der Zunge lag.
    »Man möchte beinahe glauben, dass dieser Fall abgeschlossen ist, Chef, aber es wundert mich, warum Sie nicht die ganze Wahrheit aus ihm herausgequetscht haben.«
    Mr. High lächelte.
    »Ihnen genügen also zwei Mordgeständnisse noch nicht, Jerry?«, sagte er. »Mehr ist nicht nötig. Wir haben unser Ziel erreicht, und den Rest kann ich Ihnen verraten.«
    Ich blickte ihn groß an.
    »Sie wussten also schon von Anfang, dass es sich bei diesem Burschen nicht um den wahren Jack Orlando handelte?«, fragte ich misstrauisch.
    Mr. High nickte ernst.
    »Sie waren nicht der einzige, der der Leichenhalle in der Center Street einen Besuch abstatteten, Jerry«, gab er zu. »Ich bemühte mich noch vor Ihrem zweiten Besuch in Rockrift 64 dorthin. Sie hatten sich wohl bei Ihrem Besuch nur für das Gesicht Frankie Orlandos interessiert, weil Sie es nicht glauben wollten, dass er einen Doppelgänger haben könne. Ich dagegen betrachtete mir seine Handgelenke, und die erzählten seitenlange Geschichten.«
    »Dann war der Bursche in der Leichenhalle also Jack Orlando?«, sagte ich, denn nun hatte es auch bei mir gefunkt.
    Mr. High nickte.
    »Richtig. Der Gangster, den Sie für Frankie Orlando hielten — und dieser Irrtum war verständlich, weil sie sich aufs Haar glichen — war in Wirklichkeit Jack Orlando, der angeblich zu diesem Zeitpunkt schon tot war. Jack Orlando trug an den Handgelenken die Spuren seines Selbstmordversuches, der genauso vorgetäuscht war, wie der Selbstmord Brentfords. Allerdings sorgten sein Bruder Frankie und der bestochene Doc Noremac mit raffinierten Täuschungen dafür, dass Jack Orlando am Leben blieb, dass er aber gleichzeitig offiziell für tot erklärt und bestattet werden konnte. Frankie Orlando konnte einen Doppelgänger brauchen, besonders einen, der weniger Verstand hatte als er selbst und der es ihm ermöglichte, im Hintergrund zu bleiben und seine Geschäfte von dort aus zu dirigieren.«
    Ich nickte.
    »Er schickte also Jack Orlando in das Warenlager, um das gestohlene Gut an Vic Piasto zu verkaufen.«
    »Richtig!«, erklärte Mr. High. »Und Sie lernten auch nie den wahren Frankie Orlando kennen, bis Sie seinen Bruder erschossen. Dann aber machte er den großen Fehler, nicht vollkommen von der Bühne abzutreten, sondern wieder als Jack Orlando aufzutauchen. Dabei bestand nicht der geringste Anlass zu der Vermutung, er sei noch am Leben.«
    »Warum aber dann der ganze Unsinn?«, fragte ich nachdenklich.
    Mr. High zuckte die Schultern.
    »Ein Hang zum Theatralischen und der große Job, der ihn auf ewig sanieren sollte. Seine ganze Organisation war durch Sie zum Teufel gegangen, und ohne verlässliche Männer konnte er das Geschäft nicht aufziehen. Er wusste allerdings, dass seine Gangsterfreunde nicht von ihm beeindruckt sein würden. Deshalb musste er zum Beweis seiner Fähigkeiten Sie aus dem Weg räumen. Das wäre ihm bei seiner Begabung bestimmt auch gelungen, wenn er nicht auf die verrückte Idee gekommen wäre, als Geist seines Bruders aufzutreten. Dadurch verpasste er jede Chance, die er noch hatte.«
    »Eine Kugel in meinen Rücken wäre einfacher gewesen, und Sie hätten lange nach dem Täter suchen können.«
    Mr. High nickte.
    »Zweifellos wäre das der logische Ausweg gewesen, aber Verbrecher denken einfach nicht logisch, sonst würden Sie schon am Anfang ihrer Laufbahn erkennen, dass sie über krumme Wege nicht sehr weit gelangen.«
    ***
    Sechs Wochen später wurde Frankie Orlando im Sing Sing-Gefängnis zum elektrischen Stuhl geführt.
    Dabei waren allerdings weder Phil noch ich zur Stelle.
    Wir hatten anderweitig außerhalb von New York zu tun, denn FBI-Beamte sind häufig 24 Stunden lang im Dienst, und Giftpilze wie Frankie Orlando keimen allzu üppig.
    ENDE