0359 - Meine Henkersmahlzeit
mußte sein. »Ihren Sohn, Mrs. Anderson, habe ich vor wenigen Stunden noch gesehen. Jake wollte mich töten…«
Auch mir waren die Worte nicht leicht gefallen, und Mrs. Anderson stand da, starrte mich an und schüttelte den Kopf. »Sind Sie… sind Sie verrückt geworden?« fragte sie.
»Nein, das bin ich nicht. Aber es stimmt tatsächlich. Ich habe Ihren Sohn vor kurzem noch gesehen.«
Heftig widersprach sie. »Das… das ist eine Unverschämtheit. Sie wollen mich …« Die Frau konnte nicht mehr weitersprechen, weil ihr einfach die Kraft fehlte. Sie gab sich entrüstet, sogar unnatürlich wütend, aber ich nahm ihr dies nicht so recht ab, obwohl sich mein Vater täuschen ließ. »John, bitte, du kannst doch nicht einfach Mrs. Anderson so unter Druck setzen!«
»Es ist eine Tatsache.«
»Mein Sohn Jake ist tot, Mr. Sinclair!« bekam ich zu hören. »Ich selbst habe ihn begraben. Verstehen Sie?«
»Natürlich verstehe ich Sie, Mrs. Anderson, dennoch habe ich ihn gesehen. Es war auch nicht der echte Körper Ihres Sohnes, sondern…«
»Jetzt werden Sie unverschämt!« schrie sie. Hinter ihren Brillengläsern funkelte die Wut in den Augen. »Verlassen Sie sofort meine Wohnung. Ich will Sie nicht mehr sehen.«
Natürlich hatte sie das Recht, uns hinauszuwerfen, aber ich wollte noch nicht gehen. Ich blieb eisern stehen, schaute sie hart an und fragte nach einem gewissen Akim Samaran.
»Kennen Sie ihn?«
»Nein!«
Die Antwort kam, meiner Ansicht nach, viel zu schnell, um ehrlich und wahr zu sein. Diese Person wußte etwas, und das wollte sie uns auf keinen Fall mitteilen. Wie konnte ich sie zwingen, uns, die Wahrheit zu sagen?
Unsere Blicke fraßen sich ineinander. »Ihr Sohn ist tot«, sagte ich leise. »Mir ist auch keine lebende Leiche begegnet. Aber ich habe jemanden gesehen, der ebenso aussah wie Jake. Die beiden glichen sich aufs Haar, verstehen Sie? Aufs Haar.«
»Das ist mir egal.«
»Und Sie wollen ihn nicht sehen?«
»Nein!«
»Es ist gut«, sagte ich und nickte. »Entschuldigen Sie bitte die Störung und die Unannehmlichkeiten, die wir Ihnen bereitet haben. Es ist nicht unsere Absicht gewesen.«
Die Frau enthielt sich eines Kommentars. Während ich in den Flur ging, sprach mein Vater noch mit ihr und entschuldigte sich gewissermaßen für mein Benehmen.
Im Hausflur trafen wir uns wieder. Mein alter Herr sah ärgerlich aus. Ich trug daran die Schuld, aber ich würde bei meiner Ansicht über die Frau bleiben.
Erst als wir draußen standen, verschaffte sich mein Vater Luft.
»Schämst du dich nicht?« fuhr er mich an. »Das ist doch eine Unverschämtheit von dir gewesen, John, die Frau so zu behandeln. Sie stand noch unter Trauer. Du durftest sie nicht so herunterputzen.«
»Dad, da bin ich anderer Meinung.«
»Uneinsichtig auch noch?«
»Nein, das nicht.« Ich schaute zum Himmel, sah graue Wolken und auch die feinen Schneekörner, die zu Boden rieselten. »Ich bin davon überzeugt, Dad, daß diese Frau wesentlich mehr weiß, als sie zugeben will. Die hat sich nicht umsonst so hysterisch benommen, und von einer Trauer habe ich bei ihr auch nicht viel bemerkt. Die hängt irgendwie drin, Dad, Ich glaube fest daran.«
»Auch ohne Beweise.«
»Ja.«
»Und was macht dich so sicher?«
»Das Gefühl, Dad, nur das Gefühl.«
»Wenn ich mich darauf immer hätte verlassen sollen, wäre so manches schiefgelaufen.«
»In deinem Job vielleicht. Bei mir nicht. Ich bin kein Anwalt, sondern Polizist für besondere Aufgaben. Ich jage Dämonen, Geister, Bestien, was immer du willst, und da habe ich mir im Laufe der Zeit angewöhnt, auf gewisse Strömungen zu achten.«
»So bezeichnest du also dein Gefühl?«
»Richtig.«
»Also, ich komme da nicht mit und verlasse mich lieber auf die Fakten.«
»Und wie sähen die in diesem Fall aus?« fragte ich. »Es gibt keinen Beweis dafür, daß diese Frau etwas mit unserem Fall hier zu tun hat.«
»Vielleicht bekommen wir ihn noch.« Mein Vater lachte. »Wann und wo?«
»Wir werden sehen.« Mittlerweile hatten wir meinen Silbergrauen erreicht, auf dessen Dach eine leichte Schneeschicht lag. Der Wind blies auch uns die Körner schräg ins Gesicht. Manche Schneeflocken stachen wie kleine Spitzen in meine Haut. Ich hatte die Augen verengt, um gegen das Rieseln anschauen zu können. Als mich mein Vater aufforderte, endlich den Bentley aufzuschließen, öffnete ich den Wagenschlag. »Weit werden wir nicht fahren«, erklärte ich ihm.
»Wo willst du denn
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