036 - Der Wolfsmensch im Blutrausch
nicht, wie er hierhergekommen war. Er war einfach da. Ein
unbekannter Trieb hatte ihn geführt. Und er war auf der richtigen Fährte.
Schwerfällig bewegten sich seine Beine. Die Muskeln gehorchten
noch nicht dem neuen Willen, der von ihm Besitz ergriffen hatte. Doch dann
wurden mit jedem Schritt, den er ging, seine Bewegungen geschmeidiger,
wolfsähnlicher. Er bewegte sich rasch und lautlos zwischen den Baumreihen und
erreichte den schmalen Pfad, der genau auf einen dunklen Hof zuführte, dessen
großes Eingangstor als linken Pfosten einen riesigen Baumstamm hatte. Dessen
Wipfel war schon vor über hundert Jahren gefallen.
Der Unheimliche sah die kleine, silhouettengleiche Gestalt, die
auf dem gewundenen Pfad vor ihm lief.
Der Wind stand günstig, und der Wolfsmensch nahm die Witterung
auf. Auf lautlosen Sohlen folgte er seinem Opfer, hielt sich im Schatten der
Bäume und ließ das flachsblonde Mädchen nicht mehr aus den Augen.
●
Noch hundert Schritte, dachte sie. Was der Busfahrer nur wollte!
Sie hatte keine Angst...
Sekundenlang verhielt Arse im Schritt, atmete die frische
Nachtluft ein und warf einen Blick zum Himmel. Es war schön, daß es noch
aufgeklart hatte. Sie liebte mondhelle Nächte. Die Luft bekam dann ein
unverwechselbares Flair.
Schon sah sie die Umrisse des dunklen Hofes vor sich. Im Nebenhaus
brannte unter dem Dach ein schwaches Licht. Die Mutter hielt sich sicher noch
in Großvaters Zimmer auf. Wahrscheinlich brauchte er sie gerade.
Arse zählte ihre Schritte. Sie fand, daß es eigentlich recht
interessant sein müsse, dem Unheimlichen zu begegnen. Seit dem ersten Mord war
sie abends schon oft hinausgegangen und hatte einsame Spaziergänge unternommen.
Es war ein gewisser Nervenkitzel dabei. Sie konnte nicht begreifen, daß es
einen Menschen gab, der einfach durch die Nacht streifte und nur darauf
wartete, andere umzubringen ...
Arse war so in Gedanken versunken, daß ihr nicht auffiel, wie sich
ihre Lippen bewegten und sie im Selbstgespräch vor sich hinredete.
»... ich würde ihn zur Rede stellen, und er wäre dadurch so
irritiert, daß er gar nichts machen könnte«, flüsterte sie. Ihre Augen
leuchteten. Beinahe wünschte sie sich, daß es zu einem Zwischenfall käme. Sie
würde fragen, warum er immer die jungen Mädchen und Frauen tötete. Und warum es
bei Vollmond sein mußte. Auch mit solchen Menschen konnte man ins Gespräch
kommen ... Sie bedauerte, daß sie keinen Umweg gemacht hatte. Je länger sie
jetzt draußen bliebe, um so wahrscheinlicher wäre es, daß sie ihm begegnete.
Noch achtzig Schritte ... Sie näherte sich viel zu schnell dem
Haus. Die Nacht war herrlich. Die Luft war vielleicht ein bißchen kühl, aber
Arse fror nicht.
Wieder blieb das Mädchen stehen und warf einen Blick zu den
weitreichenden Wiesen hinüber, zu den dichtstehenden Bäumen, in deren Wipfeln
sich der leise Nachtwind fing. Sie selbst war so ruhig, daß sie jedes noch so
geringe Geräusch überdeutlich wahrnahm.
Es war ein seltsamer Gedanke, daß vielleicht irgendwo in dieser
mondhellen, friedlichen Nacht wieder ein junges Mädchen das Opfer des
Psychopathen wurde. Vielleicht nur einen Kilometer von hier entfernt,
vielleicht auch auf der anderen Seite des Sees. Niemand wußte das im voraus.
Sie zuckte die Achseln und lief mechanisch weiter.
Noch sechzig Schritte ... Wenn er auf sie zukäme, dann würde sie
glatt sagen...
Ihre Augen weiteten sich. Wie eine Geistererscheinung stand er vor
ihr! Sie sah nur den kräftigen, fast zwei Meter großen Körper, der wie eine
unüberwindliche Mauer vor ihr aufragte. Eine einzige schwarze Masse, hinter der
der große, bleiche Mond stand.
Arse konnte weder schreien noch zurückweichen. Im ersten Moment
war sie wie gelähmt. Das Blut gefror ihr in den Adern. Sie wollte etwas sagen,
etwas, das sie sich zurechtgelegt hatte, aber nicht einmal dazu fand sie mehr
die Kraft. Ihre Phantasie und die Wirklichkeit waren zwei verschiedene Dinge!
Dirk Dalquist, der Busfahrer, hatte doch recht gehabt. In Sekundenschnelle
durchliefen seine Worte, seine Warnungen und sein Angebot, sie nach Hause zu
begleiten, noch einmal ihr Bewußtsein.
Hätte sie nur darauf gehört! Jetzt war es zu spät...
Es war ein Wolfsmensch, kein Psychopath, und es war auch kein
Mensch, der sich nur eine Maske übergestülpt hatte.
Als würde ein Schwerthieb sie treffen, so bohrten sich die langen,
messerscharfen Krallen in ihre Schultern. Arse warf die Arme in die Höhe und
wollte
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