037 - Sieg der Schwarzen Magie
hätte jemand Säure darübergegossen. Es war dasselbe Gefühl wie damals, als die Anhänger des Dämons Srasham mich in Istanbul auf magische Weise gezeichnet hatten. Die Tätowierung war längst wieder aus meinem Gesicht verschwunden, aber jetzt brannten meine Augen von den Tränen, die ich um meinen gräßlich hingemordeten Freund nicht weinen konnte.
Auf mein Zimmer zurückgebracht, starrte ich durchs Glas der geschlossenen Balkontür hinaus in die Nacht.
Ich war allein. Ich hatte eine letzte Bedenkzeit von einer Stunde, dann sollte Coco Zamis sterben.
Es war eine herrliche Nacht. Das Märchenschloß wurde im Mond- und Sternenlicht gebadet. Aber ich hatte kein Auge für die Schönheit rundum, für die weißen Türme und Zinnen, die sich von dem Hintergrund des samtenen, sternenbesäten Himmels abhoben. Ich überlegte, ob ich versuchen sollte, das dicke Glas der Balkontür aus dem Rahmen zu treten und mich vom zweiten Stock in die Tiefe zu stürzen. Aber das konnte ich nicht. In keinem meiner Leben hatte ich Selbstmord begangen; auch in verzweifeltster Lage nicht. Außerdem besaß ich noch ein kleines Fünkchen Hoffnung. Ich dachte mit aller Macht an den Hermaphroditen Phillip.
Wo bist du? schrie mein von Zweifeln gequältes Hirn. Wenn du hier bist, gib mir ein Zeichen! Sag mir, ob unsere Freunde noch am Leben sind oder ob sie den gräßlichen Tod gefunden haben, den ich mitansehen mußte. Sag es mir!
Ich weiß nicht, wie lange ich da stand und den Ruf meiner Gedanken hinausschickte.
Da hörte ich ein sanftes Klingen und Schwingen. Die Luft auf dem Balkon vibrierte, und dann war plötzlich Phillip da. Er trug ein weißes Gewand, und die blonden Haare umschmeichelten glänzend das großäugige, mädchenhafte Gesicht. Seine Gestalt erschien überirdisch. Er trat lächelnd durch das Glas der Balkontür zu mir ins Zimmer.
»Phillip!« rief ich und fügte gleich hinzu: »Leise! Sei vorsichtig, damit sie dich nicht erwischen!«
Er hatte zwar übernatürliche Fähigkeiten, aber er war keineswegs immun gegen irdische Waffen. Er lächelte nur sanft und deutete auf die elektrische Uhr an der Wand. Der Sekundenzeiger bewegte sich nicht mehr. Ich sah auch, daß einige Stubenfliegen, die zuvor die Lampe umkreist hatten, reglos in der Luft hingen. Phillip hatte auf geheimnisvolle Weise die Zeit angehalten.
»Bist du gekommen, um mich und Coco zu retten? Was ist mit den anderen? Leben sie?«
Phillips Augen strahlten golden. »Es gibt herrliche Blumen auf dieser Insel«, sagte er mit melodischer Stimme. »Hier möchte ich länger bleiben. Wie sie duften! Und wie schön und zart ihre Blütenblätter sind! Golden, duftig und leicht, mit einem rot-schwarz-blauen Backenrand. Tausend Insekten umsummen sie.«
»Phillip, hast du Cohen, Miß Pickford, Sullivan und Chapman gerettet oder nicht?«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Dorian«, flötete der Hermaphrodit. »Ich war die ganze Zeit bei den Blumen.«
Die Erkenntnis traf mich wie ein Schock. Ich mußte mich setzen. Meine Knie zitterten. Phillip wußte überhaupt nicht, was vorgefallen war. Er ahnte nicht einmal, daß unsere vier Freunde einen gräßlichen Tod gestorben waren.
Als ich ihm berichtete, was geschehen war, reagierte er nicht; er sprach wieder von seinen Blumen. Hätte ich die Hände freigehabt, ich hätte ihn an den schmächtigen Schultern gepackt und durchgeschüttelt. So konnte ich nur beschwörend mit ihm reden.
»Phillip, du mußt uns helfen. Verstehst du nicht? Coco soll ermordet werden, wenn ich mich nicht der Schwarzen Magie verschwöre und einem Dämon ausliefere.«
»Oh, Dorian, hättest du diese Blumen gesehen, dir könnte nichts anderes mehr im Leben gefallen.«
Er ging wieder zur Tür, vielleicht schwebte er auch über den Boden. Ich sah es nicht genau. Verzweifelt schaute ich ihm nach. An der Tür drehte er sich noch einmal um.
»Irgendwann sehen wir uns wieder, Dorian.«
Er schritt durch das Glas, stand einen Augenblick als strahlende Erscheinung draußen auf dem Balkon und war dann verschwunden. Ich starrte immer noch auf den Fleck, wo ich ihn zuletzt gesehen hatte.
Die allerletzte Hoffnung war beim Teufel. Meine Gefährten waren unzweifelhaft tot. Der Sekundenzeiger der Uhr bewegte sich wieder, die Fliegen umsummten die Lampe. Die Zeit schritt fort, auf zwölf Uhr dreißig zu, auf den Zeitpunkt, an dem Coco sterben mußte. Niemand würde sie vor dem Tod erretten.
Wieder wurde ich abgeholt und weggeschleppt. Lydia Goldstein
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