0372 - Monster in Marrakesch
mich an höherer Stelle über Sie und Ihren gestrigen Kollegen beschweren.«
»Viel Vergnügen«, sagte Husein trocken. »Allah schütze Sie.« Er dirigierte Nicole und ihre beiden Bewacher vor sich her nach draußen. Blitzlichter zuckten. Reporter schrien Fragen und reckten ihm Mikrofone entgegen, wurden aber von uniformierten Beamten abgedrängt. Draußen stand ein Notarztwagen, dessen Türen gerade geschlossen wurden.
»Ist Mehek da drin? Ich muß ihn sehen«, stieß Nicole hervor. Ehe jemand sie festhalten konnte, stürmte sie los.
»Aufpassen!« schrie Husein.
Die beiden Beamten spurteten hinter Nicole her. Sie wie Husein nahmen wohl an, daß die Französin dem Nachtportier jetzt den Rest geben wollte. Sie riß dem Sanitäter die hintere Wagentür aus der Hand und kletterte ins Fahrzeug. Ein anderer Sanitäter und ein Notarzt fuhren herum. »Was…«
Nicole sah Ali Mehek.
Er war an einen Tropf angeschlossen und lag unter einer weißen Decke auf einer Trage. Sein Gesicht war eingefallen. Er sah aus wie ein lebender Toter. Aber er war bei Bewußtsein.
Seine Augen weiteten sich, als er Nicole sah.
Im nächsten Moment waren die beiden Zivilbeamten hinter ihr und rissen sie zurück. Aber sie hatte das Erkennen in seinen Augen gesehen, und sie hörte seine gehauchte Frage: »Warum haben Sie das getan, warum…?«
Dann zerrte man sie nach draußen. Die Wagentür wurde wieder geschlossen, und mit Blaulicht und Sirene fegte der Notarztwagen davon.
»Was sollte das? Wollten Sie ihn jetzt doch noch richtig stumm machen?« fragte Husein höhnisch. »Sie hätten ihn sofort richtig treffen müssen, Ihr Pech, daß Sie sein Herz verfehlt haben und er Sie noch benennen konnte…«
»Verdammt, ich habe nicht auf ihn geschossen! Warum sollte ich?«
»Weil er Sie gesehen hat«, und damit glaubte Hassan Husein alles gesagt zu haben.
Das alles kann doch nur ein Alptraum sein, dachte Nicole, als man sie in den Fond eines Polizeiwagens schob. Ein furchtbarer Alptraum, aber warum kann ich aus diesem Traum nicht aufwachen?
***
Kommissar Kelim al Shadra hatte schlecht und wenig geschlafen. In seinen Träumen wimmelte es von Ungeheuern der Dschehenna, die ihn verschlingen wollten, dabei hätte er viel lieber von den Huri des Paradieses geträumt, die dort jeden frommen Gläubigen zu verwöhnen hatten, wie der Koran es versprach.
Ihm blieben ohnehin nur die Träume. Vor zwei Jahren war seine Frau bei der Geburt ihres Kindes gestorben. Auch das Kind hatte nur wenige Stunden leben dürfen, ehe Allah es zu sich nahm. Seitdem hatte al Shadra eine besondere Beziehung zu den Phänomenen Leben und Tod entwickelt, und darüber hinaus stürzte er sich jeden Tag aufs Neue in seine Arbeit, um zu vergessen.
In dieser Nacht hatte er in den Ungeheuern aus der Hölle den Tod gesehen, der zu ihm kommen wollte. Er fürchtete ihn schon lange nicht mehr, aber er fürchtete, daß dann noch so vieles unerledigt bleiben würde.
Von seiner Wohnung aus rief er in der Präfektur an und erreichte Hassan Husein, der sehnsüchtig auf den Feierabend wartete. »Sagen Sie, Husein, hat man inzwischen das Konsulat in Rabat erreichen können? Das französische…?«
»Wieso?« Husein war ahnungslos, weil er sich so tief in den Fall nicht hineingekniet hatte.
»Wieso? Weil dieser Zamorra ein Recht darauf hat, mit seinem Konsul zu sprechen und dessen Hilfe in Anspruch zu nehmen, und wenn er hundertmal ein Mörder ist… ich habe keine Lust, mir hinterher sagen zu lassen, sein Pflichtverteidiger sei nicht der richtige gewesen…«
»Vielleicht stellt Frankreich ohnehin einen Auslieferungsantrag«, sagte Husein und gähnte ausgiebig. »Na gut, ich lasse mal anrufen… warum ist das nicht schon gestern passiert?«
»Weil bis zu meinem Feierabend die Leitung gestört war, sowohl direkt als auch übers Amt. Ach - ich übernehme das schon selbst, Husein. Ich bin in einer halben Stunde in meinem Büro. Bis dann…«
Gefrühstückt hatte er schon. Vom Minarett der Moschee rief der Muezzin zum Morgengebet. Kelim al Shadra neigte sich auf dem Gebetsteppich gen Mekka, vollzog das Gebetsritual und schickte sich dann an, das kleine Haus am Stadtrand zu verlassen, das er allein bewohnte. Daß er ein paar Stunden zu früh zum Dienst erschien, war ihm egal. Er hatte Überstunden noch nie notiert, und anderes gab es für ihn ja doch nicht zu tun.
Er öffnete die Haustür, stand einen Augenblick lang im Licht der Morgensonne. Dann schloß Kelim al Shadra die Tür
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