0382 - Claudines Schreckensnacht
uns sichergestellt wird, ehe in den Morgenstunden die Polizei von Roanne einen Unternehmer beauftragt. Wenn der Wagen erst mal auf dem Polizeihof steht, gibt es einen endlosen Papierkrieg, ehe wir ihn wieder freibekommen.«
Er ging in das kleine »Not-Büro« und begann zu telefonieren, während Nicole noch ein paar Minuten bei Teri blieb. Er telefonierte mit einem ihm bekannten Unternehmer in Roanne, den er aus dem Bett holte.
Jedem anderen hätte der den Vogel gezeigt, ihn freundlich, aber bestimmt einen unverschämten Esel genannt und wieder aufgelegt.
Zamorra war bekannt. Er hatte Freunde, denen man auch schon mal einen Gefallen tat.
»In Ordnung, Professor, Sie bekommen Ihren Mietwagen innerhalb der nächsten Stunde, auch wenn ich noch nicht weiß, wie. Und Ihren Schrotthaufen lasse ich Ihnen auch vor die Tür stellen…«
»Besser vor die Werkstatt bei uns im Dorf«, sagte Zamorra. »Der Wagen steht derzeit in Neulise. Ein weißer 560 SEL; der Motor liegt daneben auf der Straße. Nicht zu verfehlen. Hauptstraße bis zur Ortsmitte, dann an der ersten Kreuzung rechts ab. Und der Mietwagen kann ruhig schnell und bequem sein.«
»Je länger Sie mir in die Ohrmuschel quasseln, desto länger dauert’s, und um so höher wird der Nachtzuschlag auf der Rechnung, Zamorra«, teilte ihm sein Bekannter in Roanne mit.
Zamorra nutzte die zur Verfügung stehende Stunde aus, zu duschen, sich frisch einzukleiden und ein paar Worte mit den Gästen der Trümmerparty zu wechseln. Dann schnappte er sein »Einsatzköfferchen« und machte sich startbereit, während es hinter der Brandruine immer noch hoch her ging. Die Stimmung war wirklich prächtig, und es wäre ein Verbrechen gewesen, die Party abzublasen.
»Soll ich nicht lieber mitkommen?« fragte Nicole, die lautlos neben Zamorra in den Hof getreten war.
Er schüttelte den Kopf. »Es reicht, wenn ich nicht da bin«, sagte er. »Raffael kann die Arbeit auch nicht mehr ganz allein bewältigen.«
Wenig später wurde der Wagen gebracht.
Und Zamorra war wieder unterwegs.
In der letzten Zeit hatte er sich das Schnellfahren abgewöhnt; er nutzte die Kraftreserven des großen Motors eher zum schnellen Räumen einer Kreuzung denn zum Rasen auf freier Strecke. Diesmal aber trat er das Gaspedal tief durch.
Ihm war, als habe sein Bekannter seine Gedanken gelesen, als er den Mietwagen bereitstellte. Der metallic-rote Manta GSi war für die kurvenreiche Strecke ein beim besten Willen nicht umzuwerfender Wagen.
Zamorra legte die Strecke in Rekordzeit zurück. Irgendwie hatte er das Gefühl, daß jede Sekunde zählte.
***
Claudine Focault verließ ihr Zimmer. Sie schritt die Treppe hinunter. Draußen war es fast ganz dunkel geworden, und im Haus herrschte Stille. Claudine sah im Wohnzimmer ihre Mutter sitzen. Eine Kerze brannte und verbreitete flackernden, geisterhaften Schein. Birgit Focault rührte sich nicht; sie bemerkte nicht einmal, daß ihre Tochter in der Tür stand. Birgit dachte über die Zukunft nach. Was sollte aus allem werden? Sie wußte es nicht, und sie hatte Angst. Der Poltergeist wurde übermächtig. Wohin führte es? In die Katastrophe? Es war schlimm, was diesem seltsamen Parapsychologen zugestoßen war. Aber es war schlimmer, was der Familie zustieß, und vor allem Claudine. Hilfe und Heilung waren nicht in Sicht. Birgit Focault fühlte sich hilflos. Und das war das schlimmste, was ihr passieren konnte: sie, die Mutter, war nicht in der Lage, ihrer Tochter zu helfen!
Claudine ging weiter.
In der Küche brannte Licht. Ihr Vater saß am Tisch, der Kopf war auf die Tischplatte gesunken, die Schnapsflasche leer. In seiner Hand ein leeres Glas.
Sie stöhnte leise auf.
Claudine wußte nicht mehr weiter. Ihr war klar, daß die Reaktion ihrer Eltern auf den Poltergeist zurückzuführen war. Also trug sie, Claudine, die Schuld daran, daß ihre Mutter geistesabwesend in die niederbrennende Kerzenflamme sah und ihr Vater sich betrank. Es war das erste Mal, daß Claudine ihre Eltern so extrem auf einen Vorfall reagieren sah, und es bestürzte sie zutiefst.
Sie fühlte sich alleingelassen und verloren. Verflucht und verdammt.
So schlimm wie heute war es noch nie gewesen.
Die Fünfzehnjährige verließ das Haus. Die Nacht war noch warm. Aber Claudine sah die Sterne am Himmel nicht. Sie sah nur ihren eigenen Schatten, den das Mondlicht warf. Einen Schatten in bedrohlicher Größe. Das demolierte Auto auf der anderen Straßenseite glich einem totenbleichen Monster
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