0393 - Staatsfeind nur für eine Nacht
die gleichen Zeichen auf die trockenen Stellen des Mauerwerks. Dann stiefelte ich weiter. Die schwere Tasche trug ich in der rechten Hand, damit sie von den Fahrern jederzeit gesehen wurde.
Ich drehte mich gerade zum Haus Nummer 10 um - die 66. Straße ist einbahnig in Richtung Ost, also zur Amsterdam-Avenue - als hinter mir, hart am Bordstein, ein Wagen bremste.
Ein automatisches Fenster surrte herunter. Klatschend fiel etwas auf den Bürgersteig. Der Wagen, ein neuer Chevy, jagte mit aufheulendem Motor davon. Ich schaute auf das Kennzeichen, aber die Rückbeleuchtung war außer Betrieb, sodass ich es nicht ablesen konnte.
Einen Sekundenbruchteil lang dachte ich an Verfolgung, aber es wäre sinnlos gewesen. Ich hatte den Wagen schon aus den Augen verloren. Ich drehte mich um.
Auf dem Bürgersteig lag ein Briefumschlag, der an einen Stein gebunden war.
Ich bückte mich und hob den Brief auf.
Ich steckte den Stein in die Jackentasche und öffnete den Umschlag. Er war nur flüchtig zugeklebt.
Ein rechteckiges Stück weißes Papier kam zum Vorschein. Mit den Fingernägeln zog ich es heraus, um keine Fingerabdrücke zu verwischen.
»Sofort zum Güterbahnhof kommen, Pier 108«, stand mit Druckbuchstaben auf den Zettel gekritzelt.
Ich spazierte noch etwas unentschlossen auf und ab, dann schrieb ich unauffällig hinter das Kreidekreuz am Hauseingang Nummer 10 Pier 108.
Dann trottete ich weiter, zur Amsterdam-Avenue und spielte den harmlosen Fußgänger, dem es ein besonderes Vergnügen macht, durch den Regen zu spazieren.
Nach zehn Minuten erreichte ich die 70. Straße West, die direkt zum Güterbahnhof führt.
***
Der Erpresser verzichtete auf die Methode, sich die Beute aus einem sicheren Versteck zu holen. Er suchte den persönlichen Kontakt, der für ihn in gewisser Hinsicht gefährlicher, trotzdem aber sicherer war. Er konnte sich selbst überzeugen, dass ihn niemand bei der Übergabe überraschte. Allerdings musste er damit rechnen, dass der Überbringer des Geldes ihn erkannte. Hatte der Gangster das Risiko nicht in seine Rechnung einbezogen? Oder war er so kaltblütig, den Augenzeugen anschließend auszuschalten?
Nachdem ich die West Avenue überquert hatte, trottete ich bis zum Güterbahnhof, der sich bis an den Hudson River hinzieht.
Pier 108 liegt am weitesten nördlich.
Ich marschierte die 70. Straße West bis zum Ende durch, suchte mir an einer mannshohen Mauer einen Durchschlupf und befand mich dann mit meinem Papiervermögen auf dem Freight Yard, dem größten Güterbahnhof New Yorks. Die Züge standen in Fünfer- und Sechserreihen nebeneinander.
Vom Hudson stiegen feuchte Nebelschwaden auf.
Die Bogenlampen, die im Abstand von drei Güterwagenlängen hintereinander standen, gaben nur spärliches Licht.
Der Bursche konnte mit seinem Chevy nicht bis zum Pier 108 gefahren sein. Er musste also ebenfalls den Fußweg gewählt haben.
Ich stieg über die Schottersteine des Güterbahnhofs und erreichte den nördlichen Zipfel, wo die Wagen gegen hell gestrichene Prellböcke liefen. 'Ich überquerte die Gleise.
An den Stützpfeilern des Highways, der sich hoch über den Güterbahnhof schwingt, machte ich halt.
Vor mir lag Pier 108. Das Gleis zog sich scharf an der linken Seite des Kais entlang. Durch die neblige Dunkelheit tauchten vier Kühlwagen auf, die durch ihre helle Aluminiumaufbauten auffielen.
Ich zündete mir eine Zigarette an. Über mir jagten die Wagen auf dem Highway.
Im Schatten des Pfeilers rauchte ich meine Zigarette, warf den Rest auf den Bahnkörper und trat die Glut aus. Der Pier 108 lag menschenleer da, soweit ich bei diesem diesigen Licht sehen konnte.
Ich ging auf Pier 108 zu, wechselte den Koffer von der rechten in die linke Hand, lockerte meine 38er Smith & Wesson und legte den Sicherungsflügel herum.
Als ich den ersten Kühlwagen erreichte, ging ich langsamer. Ich blickte mich nach allen Seiten um, sah aber niemanden. Ich trottete am Gleis entlang, brachte den zweiten Kühlwagen hinter mich und machte eine kurze Verschnaufpause. Plötzlich spürte ich im Rücken die Mündung einer großkalibrigen Pistole.
Bis heute weiß ich noch nicht, wo der Bursche herkam. Ich hatte ihn nicht gehört.
***
»Dreh dich nicht um. Geh geradeaus bis zum letzten Wagen«, knurrte der Mann. Es war die Stimme des Erpressers, die ich mir genau eingeprägt hatte. Obgleich das Mikrofon jede Stimme leicht verfärbt, erkannte ich sie sofort wieder.
Ich trottete gehorsam weiter. Der Bursche
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